In Ungnade

Auf dem Tisch lagen, zwischen Kelchen und Bronzeplatten mit Trauben und Apfelschnitzen, hundert Jahre Familiengeschichte ausgebreitet. Ligia Iorga, umringt von zweien ihrer Kinder und dem über einige Ecken verwandten Nikolaj, deutete, das Lachen der Rührung im Gesicht tragend, auf ein Bild, das die kleine Helena zeigte. Etwa sechsjährig und feingebaut wie ein Schneeglöckchen stand sie auf der untersten Stufe eines Hausaufganges, die Hände in ein strenges Kleid eingegraben, mit einem trotzig verbohrten Ausdruck in den hellen Augen, die ganz bewusst nicht dem Betrachter entgegen, sondern ihm abgewandt zu irgendeinem Ort schauten, der außerhalb der Bildkante lag.
„So unwillig zu stehen hat sie sich von Veruca abgeschaut“, behauptete Ligia, die jedes Mal, wenn sich eine Gelegenheit bot, den Augenblick ergriff, und ihren ihr liebsten, nahestehenden Familienmitgliedern alte Alben vorlegte wie Psalme, zu deren Wiederkäuen der Gläubige verpflichtet war. „Und seht euch Leon an. Wie elegant er war. Wie gut er ausgesehen hat. Das war an seinem achtzehnten Geburtstag. Mein Paul war so stolz.“
„Haben er und Adrian an dem Abend nicht einen Novizen verprügelt?“ Ligias jüngerer Sohn, Ilie, verstand sich nicht auf die heilige Pflicht, die Vergangenheit nach dem rechten Maß zu frisieren und aufzuhübschen.
Dafür bekam er einen entrüsteten Blick seiner Mutter.
Seine Schwester Helena beugte sich mit einem Lächeln an ihm vorbei. Sie musste sich anstrengen, mit ausgestrecktem Zeigefinger ein Bild zu erreichen, das in der Mitte des Tisches lag.
„Der dicke Junge neben Onkel Victor. Ist das Nikolaj?“ Ihr Gesicht hatte einen stillen und herzensguten Ausdruck aufgelegt, doch Nikolaj, der heute wie eine graue Statue neben seiner Base stand, die Arme in eine sanfte Verschränkung gezogen, das schöne Kinn aufgerichtet, erkannte sie als die, die sie war, ein spöttisches Mädchen, das ihn liebte und es doch nicht lassen konnte, die schmutzigen Flecken der Vergangenheit mit einem heimlichen Fußwisch unter dem Teppich vorzuholen, wann immer ihre Mutter sie dort versteckte.
„Das bin ich“, sagte er. „Ich erinner mich an den Tag. Ihr seid zu Boris in die Brennerei gefahren und du hast darauf bestanden, dass ich nicht mitdarf, Lenchen.“


Jetzt war in Helenas Gesicht Bestürzung zu beobachten, als sie sich eilends aufrichtete. Zu einer tonlosen Wiedergutmachung reichte sie ihm ein Apfelstück. Dann setzte sie sich auf der anderen Seite des Tisches und grub, ganz ähnlich wie auf dem Bilde, ihre Hände in den Rock ihres Kleides ein, sodass die changierende Seide über dem Spiel ihrer Finger wackelte.
„Du durftest dann ehrlich nicht mit?“
„Doch. Aber ich wollte nicht. Was soll ich denn da? Du wolltest dann auch nicht mehr mit. Aber du musstest.“
Es bereitete ihm wahrscheinlich eine gewisse Zufriedenheit, sie jetzt aufschmatzen zu sehen. Man konnte Helena leicht ein bisschen triezen und dann beobachten, wie sie ihren hellen Kopf in die Höhe richtete, die Nase künstlich verletzt zusammenzucken ließ und, ihre Locken dabei wie eine Krone tragend, mit einem Ausdruck von einer gewissen, abgelegenen Romantik, lebhaft ihre kleinen Lippen aufeinander presste als wolle sie sagen: Mit dir rede ich keinen Ton mehr!
Dabei bestand ein Teil ihres Mienenspiels immer aus einer nachdenklichen Verve, die bei jedem Augenaufschlag die Dinge hinterfragte, die Helenas Blick ausgesetzt waren.


„Na“, sagte sie schließlich mit einer Strenge, die sie immer dann aufspielte, wenn sie sich ihre eigentlichen Gefühle nicht anmerken lassen wollte. „Du hast dich ja jedenfalls ganz gut entwickelt.“
„Da mein Kind schon selbst von solchen Themen wie Entwicklung beginnt.“ Ligia zwang nun alle, sich zu setzen, platzierte Ilie gegenüber von Nikolaj und sich selbst mit Gesicht zu Helena. „Bitte redet mit ihr, Jungen. Mir gefällt nicht, welche Wendung sie wieder macht.“
„Was machst du denn, Lenchen?“, fragte Nikolaj. Er sprach auch für Ilie, der ganz und gar ausdruckslos den Tee entgegennahm, den seine Mutter ihm eingoss.
Ehe aber Helena die Gelegenheit bekam, eine inbrünstige Verteidigung zu ihren Gunsten abzuhalten, schnitt die Ältere ihr ins Wort.
„Sie restauriert das Haus von diesem furchtbaren Cird. Zuerst lässt sie zu, dass er sie sitzen lässt. Und dann bringt sie auch noch für ihn seine Ruinen in Ordnung.“
„Also zuerst einmal hat er mich nicht sitzen gelassen. Wir haben-“
„Ich verstehe ja, du wolltest John Tavington nicht. Gut, ich habe oft gesagt – ihr wisst, Jungs, ich habe es oft gesagt, dass er eine gute Partie gewesen wäre-“ (Kolja wechselte einen stumpfen Blick mit Helena und ihrem Bruder) „-aber ich habe mittlerweile eingesehen, dass ich manches dabei außer Acht gelassen habe. Aber dass mein Kind, das einen Adeligen hätte heiraten können, den guten Lucas zum Beispiel...-ach, dass mein Kind solchen üblen Räubern auf den Leim geht.“
Helena hatte ihre Antworten zu diesem Thema bereits ausgeschöpft. Sie lächelte nun, aber ihr Blick starrte ungläubig und leer in eine andere Richtung.
„Er ist ein Ehrenmann, Ligia“, sagte Nikolaj.
„Das ist mir egal. Er ist ein Schuft.“ Bei diesem Wort riss die Mutter ihre Teekanne so entschieden in die Luft, dass heißes Wasser über den Tisch spritzte.
„Bandelst du etwa wieder mit Cird an, Leni?“ Ilie hatte nur zugehört. Als er sich jetzt zur Sprache meldete, mit einer sanften, aber nahezu intonationslosen Stimme seine Schwester ansprach, schien sein Gesicht noch den letzten Rest an Ausdruck verloren zu haben, dessen man sich vorher gar nicht bewusst gewesen war.
„Nein. Natürlich nicht. Mama kann es nur nicht ertragen, dass ich das ganze Wochenende an dem Haus gearbeitet habe. Aber ich tue das für mich. Es gibt dort niemanden, der meine Mühe ausnutzt. Ich war allein und habe ehrliche Arbeit mit meinen Händen verrichtet.“
„Wenn ich daran denke! Ihre ganzen Kleider hat sie verkauft. Sie hätte einen Mann von Stand heiraten können. Stattdessen schlägt sie Bretter ans Haus, als wolle sie das alles nicht, was wir so hart erarbeitet haben.“
„Naja, Ligia, vielleicht will sie es nicht“, überlegte Nikolaj bedeutungsschwer oder angestrengt, aber er biss dabei von seinem Apfelschnitzen ab und kaute, als wären das Gespräch und der Apfel ein und derselbe vertraute Geschmack. „Und du hast damals auch Paul geheiratet und keinen Adeligen, oder?“
„Die wollte wahrscheinlich auch kein Adeliger“, sagte Ilie.


„Übrigens.“ Koljas schwer zu ergründende Augen schossen sich auf Helena ein, die ihm schon jetzt, als sie erkannte, wie sein Mund sich zu einem dümmlichen Lächeln aufschwang, mit der anmaßenden Protzerei einer Windfangtür begegnete, die keinen anderen Sinn hatte, als ihn auszubremsen, ehe er sie erreichte. „Wer sind die ganzen Leute, mit denen du dich zur Zeit umgibst? Vito hat so einen Spruch gerissen. Vielleicht hab ich ihm aus Versehen die Nase gebrochen.“
Helenas Stöhnen, das sie ihm erwiderte, hatte in erster Hinsicht eine tragende Botschaft. Sie glaubte ihm nicht. Hätte Nikolaj dem Hausdiener die Nase brechen wollen, dann hätte er es getan. Und wollte er es nicht, dann hatte er es nicht. Und wahrscheinlich hatte er es nicht gewollt.
„Welche Leute?“, fragte sie, ehe ihre Mutter es tun konnte.
„Er sagte es kommen ständig fremde junge Männer an die Tür, die er nicht kennt.“
„Wirklich – warum erzählt er euch das. Er muss doch wissen, was für ein Eindruck dadurch entsteht.“
„Nicht dadurch, dass er uns das erzählt“, warf Ilie tonlos ein.
Helena lächelte abermals hinter Mauern hervor.
„Du würdest es doch sagen, wenn du wieder ins Geschäft einsteigst?“ Eigentlich klang Kolja nicht, als wäre ihm aus eigenem Interesse daran gelegen. Er klang wie jemand, der von sich selbst wusste, dass er kein guter Ratgeber war, der manchmal aber, weil er gerade mitdachte oder nicht umhin kam, es gut zu meinen, dennoch einen Rat aussprach, wenn kein anderer es ihm bisher abgenommen hatte.
„Soll ich jemanden verprügeln?“ Ilie stierte seine Schwester an ohne zu blinzeln.
„Nichts davon.“ Helena schob den Tee weg, als könne sie damit auch all die Blicke und Gespräche abstreifen, denen sie sich seitens ihrer Familie je stellen hatte müssen und noch stellen müssen würde. Es waren dabei nicht ihr Bruder oder ihr Vetter, die sie aufregten, sondern das zerfahrene, aufwiegelnde Gesicht ihrer eigenen Mutter, die es nicht lassen konnte, sich in Angelegenheiten einzumischen, die sie von vornherein wild und völlig fehl deutete.
Ligia seufzte tief, als ihre Tochter aufstand und, die Hände vor den Körper gehoben wie einen Schild, der ihren eigenen Ärger einschließen und alles Äußere abschirmen sollte, auf und ab ging.
„Ich habe meine Sachen verkauft, weil ich kein Geschäft mehr habe. Die Leute, die mich besuchen, sind aus unterschiedlichen Gründen da, weil sie alte Freunde sind oder ich mit ihnen Privates zu besprechen habe oder weil sie neue Freunde sind oder vielleicht sogar Geschäftspartner. Aber es sind andere Geschäfte. Es sind meine eigenen Geschäfte und sie gehen die Familie nichts an. Außerdem bin ich in Lynns und Alexejs Nähe. Ich verheimliche ihnen nichts, was sie betrifft.“
„Was ist denn mit deinen richtigen Freunden?“, warf Ligia mit einer Stimme ein, die aus einem Bauch voll veralteter Hoffnungen drang und nicht stark genug war, Helenas überreizte Erklärung aufzulösen. „Elizabeth Rawson zum Beispiel.“
„Betty ist weg. Alle sind weg. Leyla ist meine Freundin, Mutter, und wenn dir das nicht passt, hast du Pech gehabt.“
„Ich habe nichts dagegen, dass sie deine Freundin ist. Aber du musst dir nicht gleich ein Mädchen aus der Gosse in das Haus holen. Und was hat es mit einem Ministerialwächter auf sich? Warum kommt er zu dir? Und der junge Mann aus dem Maidenwispern? Und wer waren die anderen beiden? Wer ist dieses Gossenpublikum an deiner Tür, Helena und zu wem gehört der blonde Jüngling, mit dem du so gern sprichst?“
Ilie und Nikolaj waren, solange Ligia ihren plötzlichen Anfall vorschneller Worte anheim gefallen war, dazu übergangen, einander schweigend anzublicken und zu verstehen, was sich ihnen an einer Szene just in diesem Moment offenbarte und weshalb die Stimmung im Raum sich wandelte, den goldenen Herbst übersprang und gleich in einen kalten, atemlosen Winter überging.
Helena stand, die Hände voller Überraschung bis an den eigenen Bauch gesunken, auf dem Fleck und rührte sich nicht.
„Du lässt mich bespitzeln“, keuchte sie. In den Winkeln ihrer Augen, die sich verengten und ihre Neugier ablegten, dafür einen Ausdruck bewegten Ekels und Verrats annahmen, drohte die Bestürzung über sie hereinzukippen. „Und ich dachte, das wären die gewesen, die...aber das warst du...Mutter!“
Als Helena mit aufgebauschtem Kleide aus dem Zimmer rauschte, aufdass ein Luftzug wie ein Sturmhauch in ihr Lockenhaar fuhr, wollte Ligia aufspringen und der Tochter nach, aber es war die Empfehlung ihres Sohnes und des guten Nikolaj, dass es angebracht wäre, sich jetzt zurückzuhalten.

Kommentare 5

  • =D <3?

  • ...der liebe Onkel... *geht fix in Deckung*

  • *nimmt kommentarlos die gute alte Ascalonflinte aus dem Schrank und legt sich aufs Iorgadach* "Meine Helena hat Schwierigkeiten bla bla. Dummes Kind bla bla. Weiber bla bla. Gossentypen bla bla. Haus renovieren bla bla. Kleider verkaufen bla bla. Pelze vermutlich auch bla bla bla." PEW PEW PEW ....PEW !

  • Kind, mit wem treibst du dich nur herum! *ringt die Hände*
    :D

  • :thumbup: