Der Fluch der Familie

„Es ist nicht so wie es ausgehen hat!“
„Geh mir aus den Augen!“
„Du verstehst das alles völlig falsch!“
„Bist du taub? Du sollst verschwinden!“
Manch guter Beobachter soll in der Lage sein, die nächste Handlung seines Gegenübers aus den Augen ablesen zu können.
Helena Iorga war ein empfindsam aussehendes Mädchen von zwölf Jahren mit milchfarbenen Locken und verschlüsseltem, hellblauäugigem Blick. Und dieser Blick gab keinen Aufschluss darüber, was sie tat.
Es war Glück, dass der junge Mann ausreichend schnell und gelenkig war, dem fliegenden Tonbecher auszuweichen, sodass er nicht gegen seine Brust traf, sondern an der Kachelwand zwischen den Fenstern zerbarst.
„Hör auf damit!“
„Geh!“
„Ich kann mich ändern!“
„Das sagst du immer! Geh!“
Das Mädchen hatte noch nicht genug Scherben verursacht. Schon streckte sie wieder ihre Hand, schon hatte sie den nächsten Becher, und damit er nicht doch noch einen Schlag abbekam, setzte der junge Mann auf sie zu und packte sie an beiden Armen. Er griff damit auch um ihre Locken, die lang über ihren Schultern lagen, viel zu brav für das Verhalten, das sie gerade auslebte.
„Hör mir doch zu. Sie hat mir nichts bedeutet“, beschwor er, das Mädchen schüttelnd, mit seinem schönen, einfangenden Blick, mit dem er schon ganz Andere, schon Ältere und Erfahrenere geködert hatte, aber das zwölfjährige Mädchen riss sich von ihm los und floh bis ans andere Ende des Raumes, sodass die Distanz, die sie innerlich bereits ausstrahlte, endlich zu einer körperlichen Erfahrung wurde.
„Das sagst du noch öfter!“
„...Das habe ich noch nie zu dir gesagt. Wieso auch?“
Zur Antwort zerschellte ein Becher an der Wand.
Und als der junge Mann dem Mädchen diesmal nachsetzen wollte, raffte sie ihren Rock, den sie wie ein überflüssiges Extra über einer dünnen Hose trug, und stürmte aus dem Zimmer.
„Deine Hände fassen mich nicht mehr an“, rief sie entschieden, mit der Festigkeit einer verletzten Königin, die ihr Land verraten und ihr Leben hinüber sah, doch nicht bereit war vor den Augen ihres Volkes ihre Würde abzulegen. „Sie sind absolut nicht gut genug für mich.“
„Lass es mich doch erklären. Sie hat eigentlich mich geküsst!“ Der junge Mann wehrte sich dagegen, in den Wind geschossen zu werden. Er sprang Helena nach und holte sie doch nicht ein. Sie bog um die Ecke, und als er hinterher kam, war sie weg, fast, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.


Das waren aufregende Tage in der ascalonischen Siedlung, in der die Familie anlässlich des Geburtstages des alten Gleb zusammenkam – kaum einer wusste, wie alt er geworden war, alt genug, darüber war man sich einig, ein ehrbares Alter, ein Grund, ausgiebig ein paar Flaschen Kartoffelschnaps zu köpfen. Helenas Onkel Victor und der griesgrämige Eugen-Paul, einer der Söhne des gefährlichen Cosmin Iorga, Cosmin, der für seine eigentümlichen und phantasievollen Zweckentfremdungen seiner Gartenschere bekannt war, saßen lachend beieinander und verhalfen der kleinen Sneshana zu ihrem vielleicht ersten gehörigen Rausch, der mit einem Martyrium über dem Putzeimer und einer gehörigen Rundum-Anfuhr ihres Vaters Boris zu ende ging. Die Kinder tranken Kwas und die Alten gaben mit ihren Geschäften an, die Frauen verglichen ihre Garderobe und ihren Schmuck und im Nachbargarten küsste der schöne Angelin Lendorf, an den Helena erst gestern ihr Herz und ihre ganze Liebe verloren hatte, eine andere. Veruca, ihre Cousine, holte sie still und heimlich und zeigte mit dem Finger, wie er dort zwischen Ginster und Goldflieder eng umschlungen mit einem Mädchen aus dem Dorfe sich Angelegenheiten hingab, die eigentlich hinter verschlossene Haustüren – und derer mindestens zwei oder drei - gehört hätten. Und dieser Anblick, nur einen Tag nach ihrem ersten Kuss, einem so einschlagenden und wichtigen Ereignis in Helenas Leben, einer so prägenden und alles bedeutenden Erfahrung, war die Vorschau gewesen zu der Szene, die sich kurz darauf in einem Zimmer ihres Gasthauses ergab, bei der sie hinausstürzte und Angelin ratlos und verzweifelt zurückließ. Aber von wahrer Verzweiflung verstand er, dessen war Helena sich sicher, nicht das Geringste.
Ihr jugendliches Leben war vorbei!
Jetzt kannte sie die Welt und ihre Grausamkeit, und war davon in den Grundfesten so gerührt, dass sie ihren ältesten Bruder Leon unbedingt aus seiner Runde von gleichaltrigen Cousins reißen musste, um ihm tränenreich ihr Leid zu klagen, dessen sich seit dem vergangenen Tage so unerträglich viel angehäuft hatte. Er hörte sich ihre Geschichte mit ernsten Zügen an, schönen, erhabenen Gesichtslinien, wie alle in der Familie sie teilten, und sprach dann ein paar milde Worte des Trosts. Er nahm sich Zeit und sprach fürsorglich wie ein Geistlicher, und als er sie dann zu Bett brachte, während im Festsaal noch der allumfassenden Trunksucht zu Ehren schiefe Choräle in den Himmel geschrien wurden, schlief Helena mit trockenem Auge ein. Und über Nacht und ohne wach zu sein, musste sie in ihrem Geiste der Erkenntnis Pforte um Pforte öffnen, dass ihre Vorstellung, wie Angelins Gesicht blutig auszulaufen begann und er, ihren Namen wimmernd, in sich zusammenbrach, kein Symptom ihres gebrochenen Herzens war – selbst wenn es zweifellos ab heute die ein oder andere tiefe Narbe auf sich tragen würde – sondern eine Schuld, die auf Kosten eines himmelhohen und überaus zart besaiteten Stolzgefühls ging, eine Schuld, die teuer würde, doch die er mit ausreichender Zuwendung und einem geeigneten Vorrat an Reue und Demut, vielleicht ein paar Geschenken, zumindest zu begleichen versuchen konnte. Diese Chance wollte sie ihm, wo doch Tante Sorcia heute erst, als sie ein Kuchenstück mit dem Familienbastard Kolja geteilt hatte, ihre Großzügigkeit gelobt hatte, einräumen. Weil die Tante nicht gehört hatte, wie Helena ihrem Vetter das Stück mit einem „Ich will ja nicht so fett werden wie du“ hingeschoben hatte und ihre Äußerungen daraufhin ganz freundlich und verzückt gewesen waren, hatte auch Helena dieses kleine zusätzliche Detail längst vergessen und war mit sich selbst zur Einigkeit darüber gekommen, dass sie, ihrem vorbildlichen Wesen entsprechend, Angelin die Gelegenheit geben musste, sie anzuflehen.


Als sie dann am nächsten Tag aus der Herberge trat, sich hübsch, die Wangen rosig gemacht und mit Haarbändern und schillernden Seidenstrümpfen ausstaffiert hatte, um ein glorioses Bild abzugeben, wenn sie die Bitten Angelins hart und fordernd, mit den hohen Wangenknochen einer Ikone und dem Handweis einer Rachegöttin verneinte, erwartete ein Halbrund verquollener Gesichter und aufgeregter Bürger sie auf dem Dorfplatz. Die Versammlung nahm ihr den Wind aus dem Tritt, bis der Anblick einer kleinen Einheit von Seraphen um den Ginsterbusch ihr einen Schrecken versetzte, der ihr in die Fersen blies. Sie rannte drei Schritte, dann hielt sie umso drastischer, schlug die Hände vor den Mund und schrie stumm in die kleinen Innenflächen, krümmte sich, spürte all die Narben aufreißen und Messerspitzen schicksalsschwer in ihr Gewissen schneiden. Dort hinter den atemlosen Schaulustigen, den schluchzenden Angehörigen, der zusammenbrechenden Mutter des armen Angelin und den rätselnden Dörflern stand ihr Bruder Leon, das blonde Haar zurückgebunden, die Züge straff und aufmerksam. Er hatte sein Kinn angehoben und ein desinteressiertes, kantiges Schmunzeln in den Winkeln seiner Lippen versteckt.
Was hatte sie geritten, sich von allen Leuten Leon anzuvertrauen?
Seine Hände verflochten sich hinter dem Kreuz ineinander, was seinem aufrechten Stand nur Gutes tat, und gerade kam von der Seite sein Cousin Adrian zu ihm. Sie sprachen mit geduckten Gesichtern leise Worte, und Helena beobachtete, starr vor Niedergeschlagenheit, wie der Vetter seine Hand auf ihres Bruders Rücken legte und beide miteinander fort gingen, um ihr Gespräch anderswo fortzuführen. In ihrem Hinterkopf hörte und sah sie die Seraphen halbkreisförmig ausströmen und alle Leute vertreiben. Der schöne Junge wurde vom Dachfirst geschnitten, wo man ihn an der Gurgel aufgehangen hatte.
Aber an wen hätte sie sich wenden sollen? An ihren Onkel Victor? Der tote Körper durfte froh sein, dass sie dies nicht getan hätte, auf diese Weise blieb ihm noch, in seinem Nachleben, für die kurze Zeit bis zur Vergänglichkeit, die Erinnerung an sein formvollendetes Gesicht.


Helena fächerte die Augen auf. Sie warf im schalen Licht der Nachttischlampe einen klaren Blick zum Himmel über ihrem Bett. Manchmal träumte sie von früher. Von Angelin oder anderen, die ihren Weg pflasterten. Für ihrer aller Hände war sie nicht gut genug gewesen, und viele derer hatten sie nicht einmal berührt. Wie eigentlich konnte es sein, dass in all den Jahren niemand ihrer würdig, niemand auch nur hinreichend gut genug gewesen war, den leeren Fleck auszufüllen, der dort doch offensichtlich war?
Helena drehte ihr Gesicht. Auf der anderen Seite der großen Matratze erahnte sie das weiße Gesicht eines schwarzhaarigen Mädchens. Merkwürdigerweise ging es ihr besser, wenn sie da war. Sie musste Cird noch Nachricht zukommen lassen, dass er Leyla für die Ziegel bezahlen sollte, die sie für sein Haus beschafft hatte. Cird. Ein befangenes Lächeln glitt unwirklich und freudlos über Helenas blassen Mund. Er glaubte, ihre Familie hätte ihm Schlimmes angetan. Aber wenn man es in den großen Zusammenhang rückte, vielleicht hatte er noch Glück gehabt.

Kommentare 4

  • Ich liebe es in deinen Geschichten über die tiefen Abgründe der Iorga-Familie zu lesen.
    Mehr davon.

  • Oh. Ahm. Aha! Das ...ähm. Oh, guck mal, da hinten ist noch 'ne Blonde....


    *steckt die Hände in die Hosentaschen und verpfeift sich. Pfeifend.*

  • Sprachlich und inhaltlich auf höchstem Niveau! Die Lektüre fand ich insbesondere spannend, weil auch hier abermals Tiefgründigkeit und Facettenreichtum des Charakters sehr deutlich werden. Weiter so! :)

  • Wie immer toll geschrieben. Bedauerlich, dass wir so IC im Spiel gar nicht mal zusammen kommen! Mehr von deinen Geschichten. <3