Rückblick in die Zukunft

Helena Iorga drehte den Schrieb der Ministerin Averon in den Händen. Sie lehnte sich weit gegen die Lehne ihre Stuhls, streckte die Arme über die eigene Nase hinaus und hob das Kinn, soweit sie konnte, den Händen hinterher. Dann zog sie den Brief, und sie hielt ihn dabei verkehrt herum, bis dicht an die Augen und las ihn noch einmal über Kopf.
„Warum haben die mich immer noch nicht rausgeworfen?“, fragte sie ins leere Wohnzimmer.
Es war kein Leben zugegen, das ihr antworten konnte, trotzdem formulierte sie ihre Worte klar und verständlich, und wäre jemand, nur zufällig, in diesem Moment in der Nähe vorbei gegangen, so hätte er nicht anders gekonnt, als sich angesprochen zu fühlen.
Aber ihr antwortete nur die Stille und das ferne Ticken einer Wanduhr.
Die Ministerin, darüber war sich Helena mit sich selbst einig, hasste sie, ihre Familie, ja vielleicht alles und jeden, der zu nah an den Dunstkreis jener eigenwilligen Personengruppe heranreichte, die sich mit den Werten der Iorgas identifizierte.
„Vielleicht auch nur die Familie selbst“, sagte sie, wieder in ihrer vernünftigen Tonlage des bewussten Selbstgespräches. „Vielleicht auch nur mich.“


Sie konnte der Ministerin ihren Degout nicht aus vollem Herzen übel nehmen. Mittlerweile, wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie nur Gleichgültigkeit und einen Anflug warmen Verständnisses.
„Die Bonhomie mancher Leute, lässt nichts anderes zu, als uns zu verachten. Wir müssen auf sie wirken wie Dahergelaufene, die sich selbst ganz großartig finden, vielleicht zu Recht, vielleicht zu Unrecht, das spielt dabei wahrscheinlich keine Rolle, sie sehen nur etwas, das ihnen nicht gefällt. Manchmal gefällt es mir selbst auch nicht.“
Helena ließ, mit einer flatterhaften Handbewegung, mit der sie von ihrem Stuhl sprang, den Brief zu Boden fallen. Sie bewegte sich heiter und leicht durch das Zimmer, machte einen Spaziergang um den Wohnzimmertisch, trank hier ein Gläschen Cognac und aß dort eine Weintraube und benahm sich wie eine kindliche Königin, die in ihrem Thronsaal Langeweile hatte.
„Gerade im Moment mach ich nicht viel. Eigentlich wollte ich überhaupt nichts mehr machen!“, erzählte sie dann, einen Zweig grüner Trauben in der Hand, ein leises Hoppla auf den Lippen, als er ihren Fingern entglitt, weil sie sich unbedacht anderswo umgesehen hatte. Ihr Lachen war ganz transparent. Weder hielt es lange, noch kam es richtig in Schwung. Sie beugte sich mit einem Tanzschritt stiller Genugtuung und einer zwanglosen Drehung den Trauben hinterher, hob sie wieder auf und warf sie, jetzt, da sie an ihnen das Interesse verloren hatte, quer über den Tisch.


Diese Spielchen hatten sie gerade mal ein paar Augenblicke beschäftigt, aber schon war ihr wieder langweilig, und ihr gelöster Charakter verfiel ins Unglück der Beschäftigungslosen. Sie lockerte ihren hohen Kragen, der hell und sehr eng war, sie schüttelte ihn mit ein paar abrupten Bewegungen auf, so war es besser, öffnete sich das Haar, trank noch ein Gläschen Cognac, betrachtete einige der Wandgemälde des Raumes mit einem aufgesetzt kennerhaften Blick, stiftete ein wenig Unordnung, damit Vito später etwas zu tun hatte – und als ihr gar nichts mehr einfiel, verfing sich ihr Blick an dem hohen Stuhl am Kopfende des Tisches. Der Stuhl für den Anführer der Familie.
„Das ist der Stuhl des Patriarchen“, plauderte sie in den Raum hinein. Helenas Stimme war weich. Abgesehen von der Anmaßung, die in ihrem Mädchentimbre immer seinen Platz hatte, und abgesehen von einer Spur Schirmherrenschaft, die sich voller Stolz in all ihre Klangfacetten eingeprägt hatte, redete sie melodiös daher und man hätte ihr sicher gern zugehört, würde sie in vielen Situationen weniger feindselige, verletzliche oder unbedachte Inhalte wählen. „Der Stuhl des Patriarchen.“
Und dann nahm sie darauf Platz.
„Es ist kein Schachzug von mir, weißt du? Nennen wir es j'adoube. Ich will die Figur nur an den rechten Platz stellen. Es ist unfassbar, wenn ich überlege, was Männer in den letzten Jahren alles zu mir gesagt haben.“


Sie hatte den Leuten oft gerade ins Gesicht gesehen und doch vorgespielt, nicht einer Silbe von dem zuzuhören, was sie zu ihr gesagt hatten. Die Wahrheit aber war, dass sie sich gut erinnerte.
„Du in deiner weichen Kleinmädchenmanier musst es wieder auf die harte Tour lernen. Das haben wir jetzt schon ein paar Mal durch, oder?“ Das war etwas gewesen, das Adrian ihr vor die Füße geworfen hatte. Nicht lange, bevor er ihre Exekution zur Diskussion gestellt hatte, ihr eigener Vetter, ihr geliebtes Familienmitglied, das sie selbst nach Götterfels gebeten hatte. Ja, ihre Familie.
„Am wichtigsten, Kind, ist die Familie. Das darfst du niemals vergessen. Die Familie kannst du dir nicht aussuchen. Sie ist in jedem Tropfen deines Blutes. Und darum musst du sie lieben.“
Das waren Nicolaes Worte an sie gewesen.
Helena lächelte. Still saß sie dort am Kopfende und hob ihre Füße und lächelte. Aber ihre Augen schlossen sich nicht an.
„Muss ich?“
Ach, es war eine so undelikate Zeit gewesen, deshalb war sie ja gegangen. Ilie hatte sie damals gewarnt. Würde sie zu früh zurückkehren, würde alles wieder auf sie einstürzen.
„Es ist nicht wie früher, Leni. Früher ist weg.“, hatte er gesagt.
„Früher ist weg“, stimmte sie leise zu und starrte zu dem Korb mit dem Obst in der Tischmitte. „Früher gab es weder einen Armien noch einen Harry, noch eine Trixie oder Alice. Keinen Ven und Havald und keine Gräfin Soundso. Keinen Magister Besserwisser. Sie alle gab es nicht.“ Sie alle hatte es natürlich gegeben. Nur nicht in diesem Leben der jungen, das ein ums andere Mal ein klein wenig vermessenen Helena.
"Ihr macht auf mich den Eindruck, als würdet Ihr über alles und jeden nachdenken...und dabei vergessen selbst hin und wieder loszulassen“, hatte dieser fremde Eric Weißstein zu ihr gesagt, und Cird hatte zu ihr gesagt, es ginge nicht immer nur um sie. Nicht nur Cird hatte das gesagt.
„Es ging um mich“, sagte sie jetzt, allein am Tisch, mit fester, leiser Stimme. „Nur ging es um die falschen Dinge.“
Vendetta hatte Recht gehabt.
„Es gibt nichts Profaneres, Ekelerregenderes als Menschen, die ihre Gefühle in Worten breittreten und den Pathos, dessen sie sich dabei bedienen. Unglück, wenn es pur und rein ist, lässt sich nicht in Worte fassen.“
Er hatte Recht gehabt. Aber auch er war nur ein Mann, der versucht hatte, ihr seine Meinung einzuflößen. Sie war überfüttert von Ratschlägen und wohlgemeinten Richtungsweisen, und hätte sie nicht viel dazu getrunken und sich im Geiste oftmals erbrochen, sie wäre heute fett, herabgewirtschaftet und grau. Und dennoch, wenn sie ehrlich war und sich nicht selbst belog, in den wenigen Momenten, in denen es ihr gelang, ihre eigene Egozentrik zu hintergehen, war es ihr alles lieber als die Lobeshymnen, die ihr wie schiefer, scheinheiliger Gesang in den Ohren dröhnten. Wie hatte sie es damals diesem Weißstein erklärt?
„Ich finde Eure Worte nett. Aber Ihr seid doch auch ein Geschäftsmann. Ihr wisst doch auch, dass die Ware, die man am übertriebensten lobt, oft die schlechteste ist, und dass man als Verkäufer versucht, über den Makel der Ware hinwegzutäuschen. Und dass die tatsächliche Qualität gar nicht viele Worte zum Lob braucht."
„Damit reicht es“, schloss sie ihrem eigenen Rückblick an. „Es ist aus damit.“
„Womit ist es aus?“
Als Helena ihr Gesicht drehte, starrte sie in Vitos verblüfftes Angesicht, der nicht nur wie ein Schafkopf dreinschaute (das wäre man von ihm gewohnt), sondern wie ein regelrechter Dolyakkopf, wenn das weniger wert war.
„Mit wem sprichst du? Und warum liegt da ein Toter auf dem Teppich?“
Helenas Augen folgten Vitos Blick, dann rollten sie einmal rundherum ob so vieler Fragen, denn der Hausdiener brachte nicht einmal ein gewöhnliches 'Hallo' zustande und stand da breitschultrig im Flur wie ein Räuber, dem es durch völlig unverdientes Glück zu gut erging. Sie stand vom Stuhl auf und ging in seine Richtung.
„Endlich bist du da. Ich wusste nicht, was ich mit ihm machen soll. Kannst du dich darum kümmern?“
„Du wusstest nicht....- du lügst doch. Wo kommt der her?“
„Ach, das ist eine lange und ein wenig dumme Geschichte. Kümmer dich darum, dann erzähl ich sie dir. Ich verspreche, ich hab nichts gemacht!“
Es gab wohl vieles, das Vito lieber gesagt oder getan hätte als jenes schicksalsergebene Schnauben, mit dem er schließlich seine Hände aneinander rieb und Helena noch hinterher blickte.
„Wirklich. Ich möchte wissen, was das wieder ist.“
„Ich erklär es dir“, wiederholte sie, ebenfalls mit einer gewissen vorbildlichen Treue, als sie sich an ihm vorbei schob und in kleinen Stiefelchen durch den Flur davon schlurfte. Am anderen Ende angelangt drehte sie sich noch einmal um. „Aber ich habe wirklich nichts gemacht. Und übrigens. Es gibt keinen Boss mehr. Ich möchte, dass du weißt, dass kein Mann mehr über mir steht. Wir sind alle gleichgestellt.“
Dinge, die schwer für sie und lästig für ihr Umfeld waren, wie Hochmut, Unduldsamkeit oder die ewig ungebrochene Dogmatik ihres aufgetürmten Selbstgefühls, hatte sie von den Schultern abgestriffen. Sie stand nur so da mit einem kleinen Lächeln im Gesicht.
„Ich auch?“, fragte Vito, der gute, einfach gestrickte Vito.
Da war Helena schon gegangen.


„Helena, es läuft verkehrt herum mit dir. Du bist Licht, das von den Motten angezogen wird“, hatte Ilie einst gesagt.





Kommentare 1

  • Ja, Helena. Mit wem sprichst du und WARUM LIEGT DA EIN TOTER AUF DEM TEPPICH?!


    #teamvito