Was für ein herrlicher Spätsommertag. Die Sonne schien kräftig und tauchte Wiesen, Wälder und Horizont in ein nahezu paradiesisch warmes Licht. Es war perfekt. Nicht zu warm, nicht zu kalt, das Licht nicht zu grell, obschon nicht eine einzige Wolke den Himmel befleckte dessen Blau von einem kräftigen Türkis war und einen herrlichen Kontrast zu dem satten Grün des Königinnentals bot und sich in der bestechend glatten Oberfläche des Teiches hier spiegelte, als wäre das Wasser ein Teil des Himmels selbst.
Alisar lag im Gras, die Augen geschlossen und genoss wie die sanfte Brise das Wasser auf ihrer Haut trocknete. Warm und weich war sie, aber das Mädchen verschwendete keinen Gedanken daran, womit sie sich solch einen wundervollen Tag verdient hatte. Sie nahm ihn einfach hin und würdigte ihn vor allem damit, dass sie sich die Zeit dafür nahm ihn auszukosten. Und diese Ruhe... Es war nur ein winziger Schritt wegzudämmern. Nur ein bißchen dösen... Sie hatte gerade die richtige Schwere dafür erreicht, als etwas eiskalt auf ihren Rücken plätscherte.
Jäh zurück in die Wirklichkeit gerissen sprang sie mit einem Qietschen auf, von dem sie noch in der selben Sekunde befand, dass es ihrer überhaupt nicht würdig war, und fasste die kleine Übeltäterin ins Auge, welche für einen Augenblick fast genau so erschrocken aussah wie sie selbst, nur um dann, den Holzbecher als stummen Zeugen ihres Verbrechens noch in der Hand, in fröhliches Gelächter auszubrechen. "Du siehst so blöd aus!" brachte Lynn lachend hervor und zeigt mit dem Finger auf Alisar's Gesicht, auf dem sich Empörung, Fassungslosigkeit und eine langsam aufkeimende Dunkelheit in gleichem Maße regten. Letztlich gewann, wie könnte es anders sein, der Rachedurst. Mit einem Ausfallschritt setzte Alisar nach vorn um Lynn zu packen und griff doch nur ins Leere, als der kleine Kolibri die Flucht ergriff. Rotgoldene Locken flogen, während das Mädchen kichernd Reiß aus nahm und ihrem Schicksal ja doch nicht entkommen konnte.
Sie tollten wie zwei junge Welpen durch das Gras und scherten sich einen Dreck darum, was die Welt von ihnen halten würde. Übermütig und ausgelassen, genau so genoss man solche Tage. Es gab viel zu wenige davon...
Eine ganze Weile später lagen sie träge nebeneinander auf einer Decke, übersättigt vom Apfelkuchen, den sie sich als Proviant mitgenommen hatten und beobachteten emsige Ameisen, die ihre kleine Straße direkt an ihrem Lager vorbei eingerichtet hatten. Unermüdlich trugen sie Blattstücke, Grashalme und kleine Insekten an ihnen vorbei und ließen sich von den titanischen Beobachtern nicht aus der Ruhe bringen. Lynn bröselte einige Kuchenkrümel mitten unter sie und beobachtete die Ältere dann verstohlen aus dem Augenwinkel. "Duhu? Lihis?" begann sie dann das Gespräch, auf das sie nun schon den ganzen Tag überaus geduldig gewartet hatte. "Jaha?" gab die Ältere zurück und drehte, Ahnungslosigkeit nur vortäuschend, den Kopf um der Jüngeren entgegen sehen zu können.
"Sagst du mir jetzt die Überraschung?"
"Was denn für eine Überraschung?"
"Du hast gesagt, du hast heute eine Überraschung für mich."
Gekonnt und keineswegs unerwartet bekam Lynns Tonfall schon jetzt einen anklagenden Beiklang. Sie konnte schwerlich ahnen, wie sehr sich Alisar wieder und wieder darüber amüsierte, deren Gesicht ernst blieb.
"Oh. Achso. Aber wenn ich es dir sage ist es doch keine Überraschung mehr."
"Aber du hast gesagt, du sagst es mir heute."
"Ich hab gesagt, ich sag es dir später."
"Es -ist- später! Lis! Warum bist du immer so blöd?!"
Alisar lachte und hob die Arme um halbherzig vor einem Büschel Gras in Deckung zu gehen, das auf sie zugeflogen kam. Das unter den Ameisen jetzt Panik ausbrach beachteten beide nichtmehr, als Lis sich dann träge auf den Rücken rollte.
"Schon gut, schon gut. Hab Gnade. Ich erzähl es dir. Komm mal her."
Die rabenhaarige setzte sich auf, kreuzte die Beine zum Schneidersitz und breitete die Arme aus, damit die Kleine auf ihren Schoß krabbeln konnte. Das zarte Gewicht des Kolibris zu spüren und die Zutraulichkeit mit der das kleine Wesen sich vorbehaltlos an sie kuschelte nahmen ihr einmal mehr für Sekunden den Atem. Sekunden in denen Denken nicht möglich war und in denen es in Alisar's düsterer Gedankenwelt hell wurde, selbst an Orten an die sich sonst nur selten ein Lichtstrahl verirrte. Sekunden, in denen sie das Gesicht in der Lockenmähne vergrub und ihre Existenz mit einem Mal einen Sinn ergab. In solchen Momenten war es unmöglich etwas anderes als einen tiefen Frieden zu empfinden. Die Brise war kühler geworden, aber das machte nichts. Es war nur eine willkommene Ausrede die Arme noch etwas fester um die Kleine zu schließen um jegliche Kälte von dem Kolibri fernzuhalten.
"Ich habe dir versprochen, dass ich dich eines Tages holen komme." sprach sie leise nahe an dem Ohr des Mädchens. "Wenn ich einen Ort gefunden habe, der sicher ist. Einen, an dem uns nichts passieren kann. Es gibt diesen Ort jetzt, Kleines. Und ich möchte, dass du mit mir kommst."
Es blieb still, während Lynn die eben gesprochenen Worte zu begreifen versuchte. Sie traute diesem neuen Boden noch nicht ganz, den sie gerade zusammen betreten hatten. In der Ferne war ein leises Donnergrollen zu vernehmen und das Sonnenlicht wandelte sich langsam zu diesem unwirklichem Zwielicht, dass einem Sturm so oft vorrauseilt obwohl der Himmel noch immer makellos blau war.
"Es ist ein großes Haus mit vielen Zimmern. Deines wartet schon auf dich." sprach Alisar leise weiter. "Es hat große Fenster, von denen aus du auf einen See schauen kannst. Und es gibt Hunde und Schweine und Ziegen. Und andere Kinder, Lynn."
Noch immer blieb es still. Das Mädchen atmete kaum und hielt den Blick auf Alisar's Arme gesenkt, wo sie an den feinen Härchen zupfte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, zögerte noch und ihre Stimme klang beinahe fiepsig, als sie dann doch nachhakte, selbst ganz ganz leise, als könne ein zu lauter Ton den Augenblick unwiderruflich zerbrechen.
"Darf ich Kartoffel denn mitnehmen?"
Alisar musste lachen. Aber sie tat es leise und sanft, denn nach all den Jahren war der Schritt den sie jetzt gehen wollte ganz gewiss kein leichter. Für sie vielleicht schon. Aber nicht für den kleinen Kolibri, für den, Lis konnte es sich vorstellen, diese Vorstellung immer ein Wunschtraum gewesen war von dem man aber irgendwann längst nichtmehr glaubt, dass er jemals in greifbare Nähe rückt.
"Aber ja. Wie, bei allen Göttern, bis du eigentlich darauf gekommen einen Hund Kartoffel zu nennen?"
"Na, sie sah aus wie eine, als du sie mitgebracht hast."
Lynn sah auf und musste grinsen. In den blassblauen Augen erwachte langsam ein Leuchten gemeinsam mit dem Begreifen, dass Alisar ihr Angebot wirklich ernst meinte. Dass dieser Augenblick echt war. Endlich. Nach all den Jahren.
"Und Flops darf ich auch mitnehmen?"
"Flops darf auch mit." bestätigte die Ältere entschieden und setzte einen Kuss auf die Nasenspitze des Mädchens, deren Gesicht bereits vor Aufregung zu Glühen begann. Der Wind frischte auf und das Donnergrollen war näher gerückt. Über den Bergketten am Horizont wälzten tiefschwarze Wolken näher. Schwer und bedrohlich verdunkelten sie den Himmel, nahmen ihn ein, aber für die beiden Mädchen hatte es gerade keine Bedeutung. Lynn's kleine Welt war gerade um Sovieles bunter geworden und Alisar's drehte sich für diesen Augenblick nur um diese Kleine.
Mit einem freudigen Jauchzen streckte sich das junge Ding um der Älteren die Arme um den Hals zu schlingen. "Ja! Ja ja ja! Oh ich freu mich ja so!" nuschelte sie an den Hals der Älteren und drückte sich fest an sie. "Das wird toll! Wir nehmen alle mit, ja? Umi... und Maria. Und Brina..." begann sie aufzuzählen. Die Menschen, bei denen sie bisher gelebt hatte, die sie zweifellos liebgewonnen hatte und mit denen Lis sie auf keinen Fall länger teilen wollte.
"Nein." sagte sie jetzt. "Die müssen doch hier auf dem Hof bleiben. Die wohnen doch hier." Sie bemühte sich sanft zu bleiben und gleichsam zu ignorieren, wie der Leib der Kleinen in ihrem Arm sich versteifte. Regen setzte ein. Von einer Sekunde auf die andere prasselte er in großen schweren Tropfen auf die Beiden herab.
"Aber..." Lynn löste sich und suchte den Blick der Älteren. "Warum denn nicht? ... ich kann sie doch nicht allein lassen." sie sprach es mutlos aus und flehte nur mit ihren Augen stumm um Verständnis. Doch Lis, deren Blick auf den nun trüben Teich gerichtet war, sah es schon nichtmehr. Sie kannte das schon. Verloren. Sie wusste es. Mit unwiderruflicher Gewissheit war es ihr klar. Die Situation war erschreckend vertraut, auch wenn sie unmöglich hätte sagen können woher. Der Regen hatte sie längst beide bis auf die Knochen durchweicht. Irgendwo in der Nähe schlug ein Blitz krachend und funkenschlagend in einen Baum. War nicht wichtig. Verloren. Die Leere, der Alisar sich gegenüber sah war so allumfassend, dass nichts anderes zu ihr durchdrang. Verloren.
"Lis! Sag doch was!" Lynn schluchzte auf, hatte die Ältere ihrer Reglosigkeit wegen bei den Schultern gepackt und schüttelte sie. Es dauerte, bis Lis aus ihrer Starre erwachte und ein schmales Lächeln aufsetzte. Freudlos, gänzlich ohne Substanz. Liebevoll, aber schon zerbrochen. "Ist schon gut." sie flüsterte es nur. "Komm her. Sag nichts mehr. ...es ist schon gut."
Abermals zog sie das Mädchen in die Arme, rückte sie auf ihrem Schoß zurecht und hielt sie sicher. "Sag nichts mehr." wiederholte sie wispernd und wiegte das weinende Mädchen sacht hin und her. Sie nahm kaum wahr, dass der Kolibri begann sich zu winden. "Shhhh..." machte Lis beruhigend, unfähig zu begreifen, was ihre Kleine so unruhig machte. Ganz zärtlich stimmte sie ein Kinderlied an, das sie Lynn schon so oft zum Einschlafen vorgesungen hatte. Ihre Kleine sollte wissen, das alles in Ordnung war und hörte dabei kaum die gedämpften Schreie über den Regen hinweg, der eisig und in Strömen an ihnen hinunter lief. Alisar war nicht kalt. Ganz warm war ihr und sie war erfüllt von einer tiefen, innigen Liebe, während Lynn einen aussichtslosen Kampf kämpfte. Der zierliche Leib wandt sich, versuchte mit aller Gewalt dem viel zu festen Griff zu entkommen, zu strampeln, das Gesicht frei zu bekommen, ...Luft zu holen. Doch erst schwand die Kraft und dann der Lebenswille. Beides wich aus dem Mädchen, während aus dem Kämpfen ein Winden wurde, ...dann ein Zucken und schließlich ... Frieden. Das Licht erlosch und Alisar, die immernoch leise sang, nahm ihr die Hand von Nase und Mund um ihr liebevoll über das Haar zu streichen.
Es war alles in Ordnung. Die Welt würde sich weiter drehen. Alisar würde vergessen, dass es diesen Moment jemals gegeben hatte und Lynn würde niemals aussprechen, was sich vorhin nur anbahnen konnte. Es würde kein Nein geben. Und Alisar konnte weiter so tun als stünde Nichts und Niemand zwischen ihnen.
Das Zimmer war stockdunkel, als sie mit einem erstickten Keuchen die Augen aufriss. Dann wälzte sie sich herum, schob den Kopf über die Bettkannte und würgte hilflos. Ihr ganzer Körper zitterte und sie vermeinte in ihren Armen noch immer das Winden und Kämpfen des Mädchens zu spüren, bis die viel zu klare Erinnerung ihr abermals den Magen umdrehte. Sie fühlte sich beschmutzt, ...befleckt und Abscheu und Ekel zwangen sie Lynn's Tod wieder und wieder zu durchleben, geboren aus eben jener Dunkelheit in der ihre Abgründe geduldig, aber immer wachsam, wie eine dicke fette Spinne auf alles Arglose lauerten, das unvorsichtig genug war sich zu nah an das Netz zu wagen.
Nur ein Traum. Wieder nur ein Traum. Der Gedanke beruhigte sie nicht. Alisar zögerte den Moment jetzt schon viel zu lange hinaus. 'Beim nächsten Mal frage ich sie.' Sie nahm es sich einmal mehr vor. 'Beim nächsten Mal!'
'Und was...' antwortete die Spinne vielstimmig und nicht ohne Spott: '...was, wenn sie nein sagt?'
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