Sie hatte ihr Haarwaschmittel gewechselt, kam es ihm in den Sinn, noch während er das kühle seidige Gefühl ihrer dunklen Locken an seinen spröden Lippen genoss. Sicher und warm hielt er sie in seinem Arm, wartete, bis auch der letzte Funke Willenskraft ihren Leib verlassen haben würde und vergrub nun die Nase in dem dichten Schwarz, um die unbekannte Note zu ergründen. Früher hatte sie Rose bevorzugt, das wusste er. Klassisch und gesetzt, aber auch seltsam profan und, dieses Wort formten seine Gedanken nicht ohne Abneigung, gewöhnlich. Jetzt kam ihm zuerst etwas Grünes in den Sinn. Nadelbäume. Kiefer vielleicht? Wieder atmete er tief ein. Langsam und so als hätte er jede Menge Zeit, erging er sich in der aufkeimenden Vorfreude auf die nächsten Stunden, die sie ganz vertraut und nur füreinander verbringen konnten. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendete er daran, sich schuldig zu fühlen. Fengys sah kein Verbrechen darin, dass er sich die Zeit mit ihr nur gestohlen hatte. Genau genommen empfand er diesen kleinen Betrug nicht einmal als verwerflich, viel zu groß war seine Überzeugung, sich und ihr etwas Gutes zu tun. Andächtig lauschte er ihren tiefen entspannten Atemzügen und wusste mit eigentümlicher Gewissheit, dass er Lynn einen Gefallen getan hatte.
Nach all den Jahren, die er sie nun schon kannte, in denen er Zeuge von ihrem Wandel und ihrem Aufstieg geworden war, glaubte er sicher zu wissen, was sie wieder und wieder von ihm fort und in die Arme Anderer trieb. Heute Nacht nahm er ihr diese Last von den Schultern. Seine Fingerspitzen strichen federleicht über ihre bloßen Oberarme und die Wärme ihrer Haut brachte seine Nervenenden zum Kribbeln. Selbst, als er dann fester zugriff, tat er es mit der Umsicht eines Mannes, der seine Geliebte nicht wecken wollte. Er hob sie etwas an, befreite sich von ihrem Gewicht, das auf ihm lehnte und stand langsam auf, damit er sie hinlegen konnte. Fengys nahm sich die Zeit dafür, sich vor das Sofa zu knien und die Schnüre ihrer Schuhe zu lösen, damit er sie ihr von den Füßen streifen konnte. Allein mit der Aufmerksamkeit, mit der er Acht gab, dass der Stoff ihres Rockes nicht nach oben glitt, als auch ihre Beine hinauf auf das Polster hob, versprach er ihr wortlos, dass er ihr nicht aufbürden würde, was er anderen Mädchen bedenkenlos aufzwang. Selbst, wenn er sich dem Gedankenspiel über all die Jahre hinweg wieder und wieder mit Genuss hingegeben hatte, Lynn war keines dieser Mädchen. Für ihn war sie diese eine. Und der Kontrast, den ihre feine Garderobe und ihre hübsch polierten Fingernägel zu seinem schmutzfleckigen Sofa bildeten, war so schmerzlich schön, dass Minuten vergingen, in denen er nicht anders konnte, als sie einfach nur zu betrachten. Mit einem beachtlichen Sinn für winzigste Details drapierte er Arme und Beine, ja sogar Finger und Rockfalten neu, bis es aussah, als hätte sie sich freiwillig hier bei ihm zum Schlafen niedergelassen. Und freiwillig war es doch gewesen, oder nicht? Sie hätte nicht von dem Whiskey kosten müssen. Er hätte sie nicht gehindert, aufzustehen und seine Werkstatt zu verlassen, wenn sie es nur gewollt hätte.
'Efeu!', schoss es ihm durch den Kopf, als er ihr das Zopfgummi aus den Locken zog. Nicht Kiefer. Jetzt war sie also unter die Giftgewächse gegangen. "Treffend, meine Schöne. Sehr, sehr treffend." Seine Worte waren kaum mehr als ein wohlwollendes Raunen nahe bei ihrem Ohr. Dass sie ihn nicht hören konnte war zu einer unsäglichen Bedeutungslosigkeit geworden. Dunkle Haarsträhnen ließ er sich durch die Finger gleiten, als er sie nach hinten strich. Alles musste perfekt sein. Sie sollte sich nicht fühlen wie abgelegt. Jetzt, wo sie nicht gezwungen war zu demonstrieren, wie selbstständig und unabhängig sie geworden war, jetzt, wo ihr Stolz endlich einmal nicht zwischen ihnen stand, konnte er sie wissen lassen, für wie unwahrscheinlich schön er sie hielt, ja, sie immer schon gehalten hatte.
Sie war schön gewesen, mit diesen herrlich großen Augen voller Furcht vor der Welt, als er sie in dieser billigen Absteige zum ersten Mal gesehen hatte. Schön, als sie Nacht für Nacht in dieser baufälligen Ruine schlief und sich mit löchrigen Decken vor der winterlichen Kälte zu schützen versuchte. Und selbst wenn er nicht ohne Wut daran dachte, welchen Preis sie dafür bezahlt haben mochte, dass dieser Sullivan plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war und behauptete, ihr Vater zu sein, selbst damals hatte er ihr mit Freuden zugesehen und ihr den Lebenswandel nicht missgönnt. Doch niemals, davon war er überzeugt, niemals hatte ihr Anblick ihm derart den Atem stocken lassen wie er es gerade tat, als sie auf dem Rücken vor ihm lag, die Gesichtszüge entspannt und beinahe leblos, die Hände auf dem Bauch sittsam übereinander gelegt. Ja, es reichte fast einfach nur nicht genau hinzusehen, um sich der Illusion hingeben zu können, sie bliebe nun für immer bei ihm.
Er hörte sie schaudernd tiefer einatmen und beugte sich dichter über sie, damit sie nicht fror. Ihre Stirn fühlte sich warm an, als er die eigene dagegen lehnte und in ihm wuchs eine ungeahnte Spannung, nun, da seine Lippen nur Millimeter über den ihren schwebten, um sich einige unschuldige Atemzüge mit ihr zu teilen. Die Versuchung auch diese wenigen Millimeter zu überwinden wuchs und blendete mit jeder Sekunde mehr und mehr alles Andere aus. Diese Sehnsucht, die mit Gewalt nach ihm griff, trieb ihn dazu, seine Hände zu Fäusten zu ballen und der Vorsatz, nicht nach dem zu greifen, was hier so ausgeliefert vor ihm lag, geriet unwillkommen in die Schwebe, bis die Anspannung seine Muskeln zum Beben brachte.
Aber er griff nicht nach ihr.
Seine Lippen streiften lediglich ihre Wange, als er sich endlich wieder regen konnte. Sein Atem war schneller geworden und nur um ihren friedlichen Schlaf nicht zu stören wandte er das Gesicht ab, zwang seine Gedanken dazu andere, nicht weniger intime Pfade zu betreten und strich ihr liebevoll über den Hals, wo ihr träger, aber gleichmäßiger Puls ihm versicherte, dass dieser winzige Moment der Schwäche diesen Raum niemals verlassen würde. Jetzt, so nah, duftete sie für ihn nach Alkohol, Tabak und Schweiß. Feminin und jugendlich, und nach letzten Restes des Duftwassers, das sie sich am Morgen auf die Kehle getupft hatte. Irgendwann einmal hatte sie ihm gesagt, um welche Blume es sich handelte. Fengys wusste es nicht mehr, doch erinnerte er sich mühelos an das herausfordernde Lächeln, das sie ihm hatte zuteil werden lassen, als sie erwähnte, dass man der Pflanze eine aphrodisierende Wirkung zusprach. Was ihn damals schon amüsiert hatte entrang ihm heute ein leises heiseres Lachen.
Während er die Fingerkuppen abwärts führte, andächtig Kehle und Schlüsselbein streiften, trank er allein den Geruch von ihrer Haut. Er war sich sicher, dass sie die Berührung durch den Stoff kaum spüren würde, aber er musste... Nur dieses eine Mal... Trocken schluckte er, als er die Rundung ihrer Brust nachfuhr und sich selbst dabei mehr ehrend als verlangend empfand. Die Vertrautheit, von der er glaubte, dass sie sie beide jetzt gerade miteinander verband, war zu innig, um durch ein derart plumpes Begehren entwertet zu werden. Und es war dieser Moment, in dem er das einmal mehr begriff, die Augen schließen und von ihr ablassen konnte. Er ließ keine Sekunde des Bedauerns zu, als er nach einer Decke griff, um sie wie einen schützenden Schild über das Mädchen zu legen, bevor er ihr die verdiente Ruhe schenkte.
Er selbst griff sich einen Lappen und verließ das Zimmer über die Stufen, die nach unten in den Keller führten. Nein, so bunt er es sich auch ausmalte, er würde sich heute nicht von ihr nehmen, was zu geben niemand von ihr erwarten sollte. Er würde sich selbst nicht zu einem 'Er' degradieren. Er würde ihre Krähe bleiben und während er mit der größten Sorgfalt jedes noch so winzige Staubkorn von dem schwarzen Sarg abwusch, war er sich vollkommen sicher, dass niemand sie auch nur in Ansätzen so sehr liebte wie er.
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