Namenstag
„Kersus“, so nannte man einen jungen Charr, gerade erst fünf Winter alt, im Fahrar der Eisen-Legion, mitten in der Schwarzen Zitadelle. Jeder Charr bekommt im Fahrar einen Namen, der sich mit dem Namen des derzeitigen Trupps verbindet. Dieser Name ist nicht irgendein Name, der Name den der Charr im Fahrar bekommt, spiegelt einen Teil von ihm selbst wieder. Sei es das Aussehen, sein Verhalten oder ein bestimmter Moment, der es wert war, ihm einen Namen entsprechend des Momentes zu verleihen. Letzteres trifft auf Kersus zu.
Es war ein Tag wie fast jeder andere auch. Die Sonne strahlte in die Zitadelle und wurde in den Zahnrädern und den eisernen Gebäuden der Stadt, die von einer dünnen Rußschicht bedeckt waren, reflektiert. Im Fahrar der Eisen-Legion, platziert im Heldenbezirk, geschützt hinter den riesigen Toren und Mauern, die diesen Bezirk begrenzen, stand für einen Primus und seinen heranwachsenden Trupp am heutigen Tag das regelmäßige Training an den Übungs-Gerüsten auf den Plan. Der Trupp, der bereits den Namen „Stahl“ verliehen bekam, fand sich mit samt Primus im süd-östlichen Teil des Bezirkes auf dem Übungsgelände ein.
Unter den zehn jungen Charr befand sich auch einer mit dem Namen Kersus. Ein rotbraunes Junges mit hervorstechenden, gelben Augen. Er besaß keine Fellmusterung, jedoch waren seine Pranken, Füße, Schweifspitze sowie Schnauze in einem dunklen braun gefärbt. Seine Hörner wuchsen nach hinten, jedoch nicht gerade, sondern sie formten bereits eine Kurve. Kersus verhielt sich in seinem Trupp wie ein normaler Charr. Er ließ sich nichts gefallen. Er setzte sich zur Wehr, wenn ihm etwas nicht passte und versuchte in der Gruppe an Ansehen zu gewinnen. Was nicht für jeden Charr selbstverständlich war, war seine ausgeprägte Loyalität und Disziplin. Er hatte noch nie ein Versprechen gebrochen, das er jemanden in seiner erst kurzen Zeit im Fahrar gegeben hatte. Zudem war er äußerst gehorsam. Was der Primus sagte, wurde auch getan. Doch Kersus war auch etwas draufgängerisch veranlagt. Er musste sein Können dem ganzen Trupp unter Beweis stellen, egal wie er das anzustellen vermochte.
Der Primus war eine ältere Charr im Alter von geschätzten 60 Jahren. Wie alt sie genau war, interessierte die Kleinen nicht. Ihr Gesicht war von Narben übersät, welche sie stets Trophäen vergangener Zeiten nannte, doch wirklich darüber sprechen wollte sie nie. Sie trug eine Ledertracht, die fast ihren ganzen Körper umhüllte. Das einzige was hervor kam waren ihre Pranken und ihr Kopf. Ihre Tracht sah sehr abgetragen aus. Das Leder hatte wohl schon bessere Tage erlebt. Innerhalb des Trupps begann ein Getuschel. „Du würdest dich nie trauen auf der Wand zu stehen, anstatt nur drüber zu klettern.“, sagte ein Junges, das hinter Kersus positioniert war. Er konnte von der Stimme her nicht ausmachen, wer ihn ansprach, seine Blicke waren stur auf den Primus gerichtet. Kersus brummte nur, seine Miene blieb dieselbe, er sah weiterhin mit einem ernsten Gesichtsausdruck den Primus an. Ein leises Kichern hinter ihm wurde für ihn hörbar. Die anderen Charr-Junge wussten bereits, dass das Brummen seitens Kersus eine Annahme der Herausforderung symbolisierte.
„Wird’s bald?! Klettert über die Wand verflammt nochmal.“, brüllte der Primus, ohne vorher überhaupt ein Wort über die Wand verloren zu haben. Es schien so, als wollte sie, dass ihre Befehle ausgeführt werden, bevor sie überhaupt ausgesprochen wurden. Die Zöglinge stellten sich daraufhin vor der Wand auf. Diese war so hoch wie zwei ausgewachsene Charr und unten auch genau so breit. Oben liefen die Seiten trapezförmig zusammen, somit war die Wand beziehungsweise das Gerüst an dieser Stelle weniger breit als unten. Man konnte hindurch sehen. Stangen, in einem Abstand von etwas weniger als einem Meter, reihten sich bis zur Spitze des Gerüstes übereinander. Ist die letzte Stange von dem oberen Teil des Gerüstes erreicht worden, so musste man zu einer gegenüberliegenden Stange gelangen. Hier war es erforderlich, einen halben Meter zu überwinden, um die oberste Stange auf der nach unten führenden Seite zu erreichen. Doch die Abstände und die Höhe waren nicht das einzige Problem. Die Stangen waren mit zahlreichen Stacheln versehen, die – teilweise noch blutverkrustet – in die Innenseite der Wand ragten.
Kersus war nicht der Erste, der die Wand erklimmen sollte. Vor ihm standen noch zwei andere Junge. Die Worte von vorhin gingen ihm nicht aus dem Kopf. Würde er es nicht machen, könnte es sein, dass sie ihn als Feigling bezeichnen, als jemanden, der den Schweif einzieht, wenn es gefährlich wird, dachte er sich. Er fing wieder an zu brummen. Als die beiden Charr vor ihm ohne Probleme die Wand erklommen hatten und unbeschadet wieder herunter gekommen waren, musste Kersus sich der Herausforderung stellen, schließlich war er jetzt an der Reihe. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Hindernis überwinden musste, jedoch wusste er, dass er dieses Mal nicht nur einfach die Wand passieren würde.
Der Primus platzierte sich, wie sonst auch, hinter der Wand auf der anderen Seite. Ein Außenstehender, hätte bei erstmaliger Beobachtung dieses Spektakels meinen können, der Primus platziere sich dort, um ein ungeschicktes Charr-Junges vor einem Sturz zu bewahren. Es kam schließlich öfter vor, dass Junge abgerutscht und von der Wand gefallen sind. Doch der Primus rührte keinen Finger, wie man vermuten könnte, als das passierte. Er beugte sich stattdessen nur über das am Boden liegende Junge, um dann lauthals mit dem Lachen anzufangen, hörte dann spontan wieder auf und brüllte: „Aufstehen und noch einmal!“.
Die beiden Charr, die vor Kersus an der Reihe waren, hatten das Hindernis gemeistert und warteten gespannt auf der anderen Seite. Hinter Kersus entstand wieder ein leises Kichern, als er die erste Pranke an eine der Stangen ansetzte und kräftig zugriff. Er fing an die Wand zu erklimmen, dabei wurde die Routine in seinen Bewegungen sichtbar. Kersus wusste genau, an welchen Stellen sich die Stacheln, die sich auf der Innenseite der Stangen befanden, aufhielten. Die Position dieser heimtückischen Fallen wurde so gut wie nie geändert.
Als er die Spitze des Gerüstes erreicht hatte, zog er sich nicht einfach darüber, um dann die andere Seite herunter zu klettern. Er warf zuerst noch einen Blick zurück, dabei das Charr-Junge suchend, welches ihm erst diesen Gedanken in den Kopf gesetzt hatte. Die Jungen hoben alle die Lefzen, als sie ihn dort oben sahen und sich fragten, ob er es nun wirklich durchziehen würde. Kersus wandte seinen Blick ab und sah nicht zum Primus, wie er es sonst immer getan hatte. Er fixierte seine Aufmerksamkeit auf die obersten Stangen und zog sich hinauf. Kersus versuchte einen Fuß auf die bei ihm liegende, oberste Stange zu setzen, was ihm auch gelang. Der Primus wurde misstrauisch, verschränkte die Arme und murmelte nur leise vor sich hin: „Was soll das werden…?“. Beide Pranken umklammerten die obersten Stangen, während er bereits den zweiten Fuß auf der gegenüberliegenden Stange platzierte. Er versuchte sich langsam aufzurichten, löste dazu seine Pranken von den Stangen und streckte vorsichtig seine Beine durch.
Hätte er nun seine Trupp-Mitglieder betrachtet, so wäre ihm aufgefallen, wie überrascht sie aussahen, als hätten sie nicht damit gerechnet. Ihre gehobenen Lefzen senkten sich, als er es schaffte sich aufzustellen. Einzig und allein der Primus änderte seine Miene nicht. Er sah dem kleinen Charr auf der Wand weiterhin skeptisch mit verschränkten Armen zu, ließ ihn jedoch vorerst machen, was er wollte.
Kersus stand nun gänzlich auf dem Gerüst. Für einen kurzen Moment hob er die Lefzen, als er mit seinem Kopf über die Schulter nach hinten auf die Charr sah, denen es wohl die Sprache verschlagen hatte. Er hätte es nicht tun sollen, denn genau in diesem Moment verlor er das Gleichgewicht. Er öffnete das Maul, riss die Augen auf und neigte sich langsam nach vorne. Der Schock war ihm anzusehen. Er konnte seine Situation nicht mehr retten, verlor das Gleichgewicht und fiel nun vornüber in Richtung des Primus. Die alte Charr war nicht mehr die schnellste und schien ebenfalls überrascht über Kersus‘ Balanceverlust zu sein.
Kersus fiel schließlich mit ausgefahrenen Klauen auf sie herunter. Reflexartig rammte er seine Klauen in das nächstgelegene Objekt, das sich in nächster Nähe befand und das war leider die Tracht des Primus. Kurz zogen sich seine Klauen durch den alten, ledernen Mantel, bevor sie sich verhakten, er mit seinen Körper gegen den Primus prallte und sich kurz darauf seine Klauen lösten. Kersus fiel ein kleines Stück, bevor sein Rücken den harten Boden berührte.
Es herrschte Stille. Die Jungen sahen den zu Boden gestürzten Kersus an und niemand gab den kleinsten Ton von sich. Acht Einschnitte auf dem Mantel des Primus wurden erkennbar und zogen sich, mit der Länge von einem Unterarm eines Junges auf Brusthöhe gen Boden. Der Primus selbst musterte seine Tracht nicht, seine Blicke waren ebenfalls auf den am Boden liegenden Charr gerichtet. Er näherte sich Kersus, als dieser sich gerade wieder aufrichtete und dabei mit der rechten Pranke seinen Rücken rieb.
Ein Schatten zog sich über Kersus. Der Primus stand nun direkt vor ihm und sah mit ernster Miene auf ihn herab. Sein schmerzverzogenes Gesicht richtete Kersus dem Primus entgegen und sah ihn ebenfalls an. Die Charr rümpfte die Nase und schnaubte laut aus. Er rechnete mit dem Schlimmsten. Als der Primus das Maul öffnete, um einige Worte an ihn zu richten, zuckte Kersus etwas zusammen. „Beim nächsten Mal fällst du nicht herunter, verflammt!“, sagte er in einem strengen
Ton, deutete dann mit der rechten Pranke auf das nächste Hindernis und fügte hinzu: „Und jetzt weitermachen!“. Mit so einer Reaktion hatte Kersus nicht gerechnet, der Tag verging und die restlichen Hindernisse wurden überwunden. Die einzige Strafe, wenn man es denn Strafe nennen konnte, die ihm auferlegt wurde, war, dass er jedes Mal, wenn er die Wand erklimmen sollte, es erneut versuchen musste, sich auf den obersten Stangen aufzustellen, bis er es geschafft hatte ohne herunter zu fallen wieder auf den Boden zu stehen, was ihm direkt bei dem nächsten Anlauf gelang.
Seit jeher wird Kersus „Stahlklaue“ genannt, jedoch nicht aus dem Grund, weil er mit seinen Klauen die Tracht des Primus verunstaltet hatte, sondern als Symbol für seinen Ehrgeiz und seiner Eigenschaft Dinge durchzuziehen, die er sich in den Kopf gesetzt hatte. Die Charr aus seinem Trupp sprachen seinen Namen nicht aus Spott gegen ihn aus, obwohl sein Versuch an mehr Ansehen zu gelangen nicht von viel Erfolg gekrönt war. Stattdessen respektierten sie ihn für seinen Mut, sich etwas getraut zu haben, was sie selbst vor den Augen des Primus nicht gewagt hätten. Kersus galt von diesem Zeitpunkt an als ein Soldat, der sein Ziel mit den Klauen packt, wenn es nötig ist und nicht aus den Augen verliert, auch wenn er zu scheitern droht.