All das Gerede

„Ja! Ja! Tiefer! Noch tiefer!....gut, nein, das war zu tief.“
Der junge Mann warf einen spöttischen Blick zu Boden und streckte dann seine Hand aus, um Helena aufzuhelfen. Er sagte tausend Dinge mit einem einzigen Blick.
Sie war froh, dass er keines davon tatsächlich aussprach.
„Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass du so klein bist“, sagte sie zu ihm. Ihr kurzer Mund hatte sich zusammengeschoben, zu einem Bild, das sie ganz unbeabsichtigt und nicht richtig bewusst abgab, und doch gewissermaßen automatisiert, weil ein innerlicher Teil ihrer selbst gelernt hatte, dass Menschen zugänglicher wurden, wenn sie ihnen bestimmte Gesichter zeigte. Bei Vendetta hatte das nie funktioniert.
„Du wirst es mit großen und kleinen Gegnern zu tun bekommen. Ich möchte das gern sehen, wie du eine Auseinandersetzung unterbrichst, weil dir die Größe deines Gegenübers nicht passt.“
Er hatte es nicht bezwecken wollen, aber sie frohlockte auf seine Rüge hin.
„Das kannst du haben!“
„Jetzt lachst du noch.“ Vendetta hatte ein hübsches Gesicht. Aber er war überheblich. Und für einen Mann schrecklich kleingewachsen. Helena hätte es nicht so oft zur Sprache gebracht, hätte sie nicht genau gewusst, dass es sein wunder Punkt war, und bislang der einzige, von dem sie wusste. „Ich lass mir berichten, ob du in vierzehn Tagen immer noch lachst, wenn ein anderer als ich dich begleitet.“
Er genoss es, ihrer Fröhlichkeit beim Vergehen zuzusehen. Zu sehen, wie sie aus ihrem Gesicht gedrängt wurde, als wäre es Luft in einem lecken Boot, fortgedrückt vom Wasser der Verwirrung.
„Du kommst nicht mit?“
„Ich komme nicht mit.“
„Warum nicht?“
„Weil jemand anders dich begleitet. Hör zu.“
„Kannst du nicht dennoch dabei sein?“
„Benimm dich nicht kindisch, Helena.“
Sie hasste es, dieses Gefühl der Ertapptheit, wenn jemand sie auf einen Umstand aufmerksam machte, auf den zu achten sie sich vorgenommen hatte, und wenn es nun der andere, Uneingeweihte war, dem es vor ihr auffiel.
„Wer?“, verlangte sie zu wissen. Sie wechselte vor seinen Augen die Kleider und besaß gerade genug Scham, ihm vorher den Rücken zuzudrehen. Ohnehin beobachtete er sie nicht. Noch ging er auf ihre Frage ein.
„Ich habe in einem Buch gelesen, dass es ein schlechtes Zeichen ist, wenn eine Frau sich vor dir entkleidet. Weil sie dich, wie die Herrin den Sklaven, nicht zu den Menschen zählt und sich deshalb nicht schämt. Zählst du mich nicht zu den Menschen, Helena? Oder nicht zu den Männern?“
„Wäre es wunderlich bei deinem Wuchs?“
Er hatte damit gerechnet, dass sie die Gelegenheit zum Plumpsein nicht verstreichen ließe. Seine Hand drückte gegen seine Brust, aber die Verschmitztheit in seinen Mund- und Augenwinkeln nannte sie fantasielos.
„Willst du diesen Weg gehen oder nicht? Wenn du es willst, sei nicht unentschlossen. Das hier ist nicht wie deine Männergeschichten. Du kannst dich nicht hin und her entscheiden.“
„Ich habe überhaupt keine Männergeschichten!“
„Du weißt, mit wem du sprichst?“
„Mit einem Wicht.“
Helena wusste nicht, wie es passierte. Plötzlich zog es ihr den Boden unter den Füßen weg, sie landete hart und alles, was sie mit Gewissheit sagen konnte, war, dass es Vendetta gewesen war.
„Wichtigtuer!“, klagte sie vor Schmerz. Sie lag auf dem Bauch wie ein Hund ohne Beine und versuchte, aufzustehen, doch sein Stiefel hielt sie unten. Helena lachte ärgerlich. „Ich wollte Wichtigtuer sagen. Hör jetzt auf!“
„Ich bin dein Lehrer“, erinnerte er in der Stimmlage eines Schülers, der den Unterricht schwänzte. „Hab ein bisschen Respekt.“ Es war eine Kunst, die man erst lernen musste, zu erkennen, wann Vendetta etwas Gravierendes sagte, selbst wenn er es nicht so klingen ließ. Er erwartete von ihr, es mittlerweile verinnerlicht zu haben. Als sie es dennoch nicht mit ihrem Stolz vereinbaren konnte, ihm etwas zu erwidern, entließ er sie.
„Du hast mir genug von deiner Zeit erübrigt. Geh. Hör dich um. Und vergiss nicht. In vierzehn Tagen. Selber Treffpunkt, gleiche Zeit.“
„Worauf muss ich achten?“
„Du wirst ihn schon erkennen.“
Damit war Helena nicht zufrieden. Aber sie bekam nicht mehr von ihm. Als sie fast fort war, hielt ein Ruf sie zurück.
„Helena?“
Sie drehte sich um und sah Vendetta süffisant lächeln.
„Wem gehört dieser lächerlich große Mantel?“



Als sie wieder in Götterfels war, befolgte sie seinen Rat. Sie hörte sich um. Und vieles von dem, was sie hörte, viele Namen, die fielen, waren ihr eine Anregung zum Nachdenken, selbst wenn dabei Gedanken angestoßen wurden, die sie an sich selbst nicht unbedingt hoch schätzte. Aber sie hörte auch viel, das eigentlich belanglos war. Die Redelust der Leute, ihr sich Ergießen in Nichtigkeiten, das Abladen hässlichen Ballastes, den sie wie Schund einem jeden anderen aufschlugen, der ihren Weg kreuzte, Helena verfolgte es hier und da und viele Male, ohne es überhaupt zu wollen.
„Und der Wirt vom Maiden“, hörte sie ein Gespräch von zwei Männern, die vor ihr hergingen. „Hat versucht, meine Frau anzuschwatzen. Ich hab ihn mächtig zugerichtet daraufhin. Hast du sein Veilchen gesehen?“
„Wann soll denn das gewesen sein?“, fragte der andere, ein Älterer, der seinen Bauch träge vor sich herschleppte.
„Gestern“, sagte wieder der Erste.
Helena schmunzelte grimmig, ehe sie in eine andere Gasse bog. Nicht weit vom Jahrmarkt entfernt schwatzten vor einem Haus zwei Nachbarinnen miteinander.
„Und wenn ich es dir sage, dass sie kratzbürstig ist! Mein Mann hat ja gehört, wie sie einem Gast übers Maul gefahren sein soll!“, rief die eine, deren Brüste fast bis zum Nabel reichten. Sie hatte das bösartige Gesicht und die Stimme einer Keiferin.
„Als Wirtin darf man nicht zimperlich sein. Sie hat wohl ein recht hübsches Gesicht. Wie es um ihre Manieren bestellt ist, kann ich nicht sagen. Aber du brauchst ja gerade nichts sagen. Mir ist es ganz Recht, dass dieses schreckliche Gesocks nicht mehr dort rumhängt. Diese Leyla und der, der ein Heiler sein wollte, wo er doch aussah, als hätte er die Krankheiten erst selber verschleppt! Dafür soll sie von einem Asura heimgesucht werden, der immer wieder fortgeschickt wird, und immer wieder kommt. Und ach! Was sich da hinter dem Haus abspielt, ich will es auch lieber nicht wissen. Wenn dort etwas angebaut wird, das sage ich dir aber, ernte ich auch ein bisschen für mich. So werdens die meisten tun. Man muss das Gute in den Dingen sehen. Dann fallen einem auch nicht so schnell die Zähne aus.“
„Aber sie soll ja einen Mord begangen haben“, setzte wieder die erste nach.“Einen Mord, Thilda, das kannst du nicht einfach so abtun!“
Als sie dann auf dem Weg nach Rurikstadt war, hörte Helena bei einem Karren einer kleinen Gruppe zu. Vor allem sprach der eine, der sich nämlich darüber erboste, dass Victor Iorga jetzt seinen ehemalig liebsten Aufenthaltsort, den Lotus, aufgekauft haben sollte, und nun könne er dort aus Prinzip nicht mehr hingehen.
In einer Taverne kam ihr unter, dass drei Frauen, die an Kleidung nur das Nötigste am Leib trugen, sich über Yarissa von Nebelstein und das Verhältnis zu ihrer Zofe ausließen, und immer wieder fielen Entsetzenslaute und 'Bei den Göttern', wirkungsvoll mit dem Kopfschütteln der Unreflektierten hervorgepresst. Die gleichen drei sprachen dann noch über 'diese Leute', die so unbedingt ihre Linie reinhalten wollten. Und wilde Theorien wurden darüber angestellt, welche Rolle der Iorga in dieser verurteilswerten Verbindung hatte. Diesem Gespräch war es geschuldet, dass Helena nicht mehr länger zuhörte, sondern die Taverne frühzeitig verließ. Auf dem Weg hinaus schnappte sie noch einen mehr oder minder interessanten Brocken über Gwennis von Weißenstein auf, die angeblich vom Ort ihres längeren Aufenthaltes zurück in die Stadt geflohen sein sollte.
„Sie hat eine geheime Verbindung in der Stadt, eine Liebschaft will ich wetten“, sagte einer von zwei unzureichend betrunkenen Burschen zu einem Mädchen, das es mit dem Trinken dahingegen etwas übertrieben hatte. „Ein schmieriger Kerl, will ich wetten. Und ich will wetten, dass es dieser Arik ist. Und wenn es nicht dieser Arik ist, dann ist es der Kerl in blau, der mit dem Stab auf dem Rücken, der Wassermagier.“
„Ich glaube es ist ein blonder Mann. Es kann dieser Williams sein, der ist ein Schwerenöter. Dass es ein Seraph ist, hab ich jedenfalls gehört.“
„Ach Unsinn. Du bist ja besoffen! Ich will wetten, dass sie, wenn es nicht der Kerl in blau mit dem Stab auf dem Rücken ist, zurück zu diesem Sigrich ist. Darauf wette ich drei Kupfer.“
Helena hätte gern drei dagegen gewettet, aber sie hatte die Veranda bereits hinter sich gelassen.
In Ossa stritt ein Ehepaar auf offener Straße, weil der Mann dem Yarim-Mädchen einen Augenblick zu lange nachgesehen hatte, am Grenthschrein schwärmte einer von der Ministerin Averon und in der Nähe des Friedhofs betranken sich Jugendliche und ahmten daraufhin um die Wette den Hammerkrück-Gang des Priesters Dronon nach, bis die Wächter vom Klerus sie fortscheuchten. Hinter einem offenen Fenster sang jemand Arien.
Es gab so viele Geheimnisse in dieser Stadt und so viel Unfug.
Wer konnte unterscheiden, was dem einen zuzuordnen war und was dem anderen? Wer durfte die Grenze ziehen?

Kommentare 4

  • Dann haben unsere Wächter ja aufgepasst*g* Wie immer sehr schön geschrieben.

  • Sehr schön zu lesen, wie immer :)
    Und... diese Einleitung hat mich zum Lachen gebracht :D

  • Deshalb war sie so "abwesend", sie hat gelauscht. :)
    Wieder so ein Spaziergang durch das RP. Klasse, wie immer, nicht nur der Mentions wegen.

  • Haha, der Anfang. Das hast du doch bewusst knapp genug formatiert, dass die Vorschau für ein großes WTF sorgt! xD