Jetzt allein

„Man sollte dich ohrfeigen!“
„Ohrfeigen? Zusammenschlagen! Wo in aller Welt warst du?“
„Guten Morgen, Mama, was machst du hier? Adrian, ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich merke, du hast es nicht für nötig gehalten, wieder nach Löwenstein zu gehen.“
„Helena, wo warst du? Weißt du, was hier los war?“
„Nein. Denn wie ihr richtig bemerkt habt, war ich nicht da.“ Helena musste sich eingestehen, dass sie sich eine andere Begrüßung erhofft hatte. Aber nun war es nicht zu ändern. Sie hatte mit etwas Erleichterung gerechnet und mit Unverständnis und Anschuldigungen zu tun, ein Vorgeschmack für das tägliche Brot einer ungewissen Zukunft, ein bitteres Aroma, aber schwerlich bitterer als die Selbstvorwürfe, mit denen sie heimgekehrt war.
Das Haus war sauber, die Flächen blank, alles ging seinen ordentlichen Gang, mit Ausnahme der kleinen Absonderlichkeit des Besuches von Ligia Iorga, ihrer Mutter, die aus Beetletun hergefahren war. Ein Blick in Adrians hartes Gesicht sagte Helena, wen sie dafür verantwortlich machen konnte. Natürlich saß es wie eine Maske, perfekt, aber übergestülpt.
„Wie sieht das denn aus? Erst ermordest du jemanden und dann haust du ab!“
„Adrian!“, rief Ligia, deren Empörung auf anderen Sorgen fußte. Ihr Haar war rötlich, halb ausgewaschen, und seit dem Vortag nicht mehr frisiert oder gekämmt worden.
„Was, Ligia? Was?“ Auch in seiner Wut behielt Adrian eine melodische Stimme, fast konnte man glauben, seine Rüge diene nur dem Schutze desjenigen, den er missbilligte. Aber unter seiner Stirn und dem sauber gescheitelten, festen blonden Haar gingen andere Berechnungen vor, ideologiefreie Pragmatismen und Regeln, die einer ganz eigenen, harschen Logik folgten. Seine Hände machten gerade und langsame Bewegungen, die trotzdem so präzisiert waren, dass sie einem wie Klingen vorkamen, die einen aufschnitten, wenn man es wagte, sich ihnen zu nähern. Früher hätte Helena sich davon aufbringen lassen. Die Ungerechtigkeit der Behandlung, dass man sie handhabte wie ein verantwortungsloses Mädchen, hätte sie in ihrem Verhalten zu einem ebensolchen werden lassen. Aber sie war nicht umsonst immer wieder gegangen. Sie hatte sich all diese Mühe und Qual nicht ohne Grund und sicher nicht ohne Auswirkung aufgeladen.
„Ich möchte euch nur darauf hinweisen, dass ich eine Aussage bei den Seraphen abgelegt habe, bevor ich gegangen bin. Es gibt Zeugen für meine Unschuld. Und, zu guter Letzt, das scheint ihr mit großer Leidenschaft zu verdrängen, bin ich erwachsen. Ihr könnt mich gern darin unterstützen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. In allen anderen Fällen muss ich euch anhalten, eure Meinung für euch zu behalten, solange ich nicht bei jeder Wahl, die ihr trefft, hinter euch auftauche und Kommentare abgebe.“
Ligia sank bei diesen Worten ächzend zusammen. Adrian stieß hingegen nur ein ruppiges Lachen aus.
„Große Rede, Helena. Wie du willst. Du wirst noch lernen, dass man sich der Familie niemals entziehen kann. Auch wenn du glaubst, niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen, weil du erwachsen bist. Es gibt einige Menschen, denen entkommst du nicht.“
„Und das will ich vielleicht auch gar nicht. Diese Menschen müssen viel mehr begreifen, dass sie mir vertrauen können. Dass ich, wenn ich gehe, auch zurückkomme, und dass ich durchaus weiß, was ich tue. Eure Sorgen gründen nicht auf meinem Handeln, sondern auf eurem Misstrauen in mich. Und wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich gehe in den Garten. Ich erwarte Besuch.“
„Wo du warst erfahren wir also nicht?“ Adrian wandte sich mit Helena mit, als sie die Diele durchschritt und im Flur noch einmal das Gesicht drehte. Ihr Halbprofil sah müde aus. Müde und ikonenhaft in seiner Schärfe.
„Nein.“
Er musste, das verriet schon sein Tonfall, mit keiner anderen Antwort gerechnet haben. Und dennoch, als er sie bekam, reagierte er ungehalten, obschon dies etwas war, das nur denen auffiel, die Adrian kannten, denn nach außen hin war er ein ruhiges Wasser.
„Dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Ligia. Ich nehme dich mit bis nach Beetletun.“
„Aber ich wollte-…sollte ich nicht…-?“
„In fünfzehn Augenblicken vor dem Haus, Ligia. Lass mich nicht warten.“ Adrian überholte Helena mit ausladenden Schritten, die an Schwung einbüßten, als er auf ihrer Höhe war. „Alles in Ordnung?“, fragte er an ihrem Ohr so leise, dass sie selbst, die unmittelbar daneben stand, Mühe hatte, es zu verstehen.
„Ja“, entgegnete sie nicht lauter. „Danke.“
Er zwinkerte ihr zu. Dann stieg er die Treppen hinauf.
Helena lächelte dünn. Sie hatte ihr Haar frisiert wie eine Königin, nur war ihr Gesicht darunter das einer Siechen. Ein wenig hatte es den Anschein als wäre sie das Gegenstück zu ihrer Mutter. Diese würde ihr freilich nachkommen, sie im Garten heimsuchen, bis Adrian dann käme, um sie an seine Seite zu rufen. Und sie hatte ihr viel zu erzählen. Nicht ein wahrer Name würde dabei fallen, nicht Sooc, Leyla, Victor, Claire, Armien oder Ven, nicht Arian, Rachel, Vendetta, Zamon, Harry, Jade, Frederic und auch keiner der anderen, die sich in ihren Alltag schoben oder dorthin eingeladen wurden, die sie beschäftigten oder auch belästigten. Sie würde nicht einmal so nah an die Wahrheit herangehen, von der fetten Schwester zu berichten, die Victors Hirschgulasch an sich genommen und verschlungen hatte. Und doch würde sie viel reden, bis Adrian in fünfzehn Augenblicken mit ihrer Mutter davonführe. Mittlerweile war sie schon eine ganz passable Lügnerin.


Kommentare 3

  • „Man sollte dich ohrfeigen!“


    :D

  • Delaqua mag im Gespräch unerwähnt bleiben, doch sein postmortaler 'walk of fame' hinterlässt seine Spuren ^^ ... ähm... natürlich nicht im wörtlichen Sinne *Liedchen pfeif*

  • Liest sich super, wie immer :D