Götterfels, dachte Helena, als sie von hoch oben auf die Lichter und Dächer blickte, ist wie ein Kleinkind. Wenn es schläft, beginnt man, seinen Anblick zu romantisieren. Es ist friedlich, man ist bewegt. Bis es aufwacht und anfängt, herumzuplärren, sich vollzukotzen und überall Aufmerksamkeit einzufordern.
Der Wind zupfte an ihrem Haar. Sie hatte es offen gelassen, mit der Voraussicht, dass es absichtlich zerzaust aussähe. Hier oben fühlte man sich der Welt und Menschheit fern.
„Also“, sagte sie nach rechts gewandt, wo ein ein dürres, dunkelhaariges Mädchen über die Brüstung gelehnt stand und fror, „wo waren wir?“
„Ich hab dich gerade gefragt was du damit gemacht hast. Mit deinem Verlobungsring“, erinnerte das Mädchen. Sie hatte gelbliche, hagere Züge, breite Wangen, ein kurzes Kinn und die Aura irgendeiner Krankheit, die genug Vornehmheit besaß, sich nicht durch Auswürfe und Gekeuche bemerkbar zu machen und dennoch unausweichlich den schleichenden Niedergang bedeutete. Ihre Kleider boten dem Wind kaum Widerstand.
„Ach ja. Richtig.“ Ich hab ihn vergraben. „Das geht dich nichts an.“
Das dürre Mädchen sah Helena für Sekunden an. Sie selbst hatte weder gelernt, ihre Gefühle zu verschlüsseln, noch verstand sie sich darauf, die verschlüsselten Gefühle aus den Gesichtern anderer zu lesen. Sie hatte nie einen Spiegel besessen, nie einen begehrt. Er hätte ihr nicht viel zu bieten gehabt und sie ihm ebenso wenig. Sie betrachtete das Iorgamädchen, als frage sie sich, ob Helena in Spiegel verliebt war.
„Können wir runter?“, bat sie. „Ich frier mir hier oben den Arsch ab.“
Helena lächelte wie jemand, der nur auf diesen Moment der Aufgabe gewartet hatte, wo die andere der Kälte zuerst klein beigab und sie einen Sieg unter ungleichen Bedingungen errang.
„Sicher.“ Sie richtete ihre Mantille, strich mit einer nachlässigen Zweifingerbewegung eine Haarlocke aus ihrer Stirn, warf einen letzten, glanzvollen Blick auf das Stadtpanorama und ließ den Winter in den Turmzinnen einsam zurück.
In Rurikstadt gaukelte der Springbrunnen den Bürgern eine frühlingshafte Nacht vor, dabei bibberten die Spaziergänger und heimkehrenden Arbeiter an der klamm-kalten Luft.
„Rabea, komm hier lang.“
Als das dürre Mädchen wie ein Falter auf den goldenen Schein zuflog, der aus dem Eingangsbereich der Rurikhalle sickerte, hielt Helena sie mit einem Ruf fest. Ihre Stimme war aus dem Material einer Peitsche, die sich um des Mädchens knöcherne Fesseln schlang. Rabea wurde aufgehalten. Sie schwenkte herum, wie ein Flamingo auf einem Bein, das andere ausgestreckt, drehte einen Kreis, einmal uhrenförmig ums Ziffernblatt, und stand dann wie zuvor.
„Schau mal“, rief sie und stakste nach links. „Der Wirt vom Maidenwispern steht draußen und raucht.“
„A...-a. Halt, warte mal, wo denkst du, dass du hingehst?“
„Ich geh ihn begrüßen. Er hat so einen Kussmund.“
„Rabea, komm hier lang.“ Selbst wenn Helena sich vorkam wie ein Pony, das nur einen einzigen Trick draufhatte, verfehlte dieser Trick auch diesmal seine Wirkung nicht.
Kurz hatte sie das Gefühl, dass Harry zu ihr rübersähe, sie im Dunkel ausmachte und das Kinn in die Höhe rucken ließ. Vielleicht war es nur Einbildung. An ihrer Leine aus scharfem Ton zog sie Rabea die Straße nach Nordwesten entlang.
„Gehen wir gar nicht ins Pfandhaus?“, fragte das dürre Mädchen. Sie war so unbedarft, man musste aufpassen, sie nicht für dumm zu halten.
„Nein. Es gibt gerade nichts beim Pfandhaus. Morgen musst du dort sein. Vincenzo fehlt, er wurde festgenommen, aber es kommt ein Grevaldi Bild rein. Du musst es annehmen.“
„Bringt dieser Grevaldi das Bild selbst?“
„Ach Rabea.“
„Was?! Warum gehst du jetzt weg?“
„Weil Grevaldi seit hundertfünfzig Jahren tot ist.“
Rabea spuckte auf den Boden. Sie lachte, als sie ihren eigenen Schuh traf. Ihre alten Stiefel hinterließen Schlammschraffuren auf dem Pflaster. Wenn es Schlamm war.
„Das hätt ich auch gern. Dass einer sich in hundertfünfzig Jahren an die Wand hängt, was ich heute sage.“
„Du möchtest hoffentlich nicht, dass ich darauf antworte.“
„Hey Helena! Wer wohnt in dem Haus dort?“ Schon war Rabea wieder abgelenkt und sprang wie ein Grashüpfer von links nach rechts.
„In welchem?“
„Hier dieses, das mit dem Daubeneimer vor der Tür. Mit den grünen Fensterläden.“
„Ich bin nicht sicher. Vielleicht irgendein Brason oder Averon.“
„So heißt doch niemand.“
„Dir ist aber bewusst, dass das Nachnamen sind?“
Rabea grunzte ertappt. Sie stieg einen Hauseingang hinauf, brach in Gelächter aus und spielte vor, aus der Tür zu treten.
„Hallo!“, rief sie mit verstellter Stimme. „Ich bin Brason Averon, wie geht’s denn so....hey Helena, wer wohnt hier?“
„Revios Melandrin.“
„Sind das auch Nachnamen?“
„Nein. Nur zu fünfzig Prozent.“ Helena war stehen geblieben. Für die Dauer eines verständnislosen Blicks war sie am Boden festgekettet gewesen, verankert durch ihren eigenen, trüben Unglauben. Dann ruckte sie mit dem Kopf; schüttelte einen Eindruck ab; keuchte; zog, die Stirn nachdenklich verzogen, am Anwesen des Ministerialwächters vorbei und hielt stracks wie eine gespannte Schnur auf den Ausgang des Viertels zu.
„Wem gehört das Haus mit dem Garten?“
Helena blieb stehen. Sie machte einen abgehackten Stopp mit beiden Füßen, drehte sich herum, mit Augen wie weißem Kandis, die eine süße und herbe Geschichte erzählten. Auch ein straff gespannter Geduldsfaden kam darin vor.
„Hier wohnt Baron Ven Fiorell mit seiner Schwester. Du brauchst gar nicht hinzugehen, wir gehen weiter.“
„Ist das nicht dieser hübsche Blonde, der dich angeblich vor dem irren Delaqua gerettet hat?“ Rabea zog ein Grinsen auf, das sich des Risikos, zahnlos geschlagen zu werden, durchaus bewusst zu sein schien. Bekanntermaßen war sie ohnehin nicht stolz auf ihre Zähne.
„Ja. Genau.“ Manchmal allerdings besaß Helena einen Geschmack für den Humor der Galgenstricke, außerdem zielte sie nie auf die Zähne. „Lass ihn in Frieden. Er ist einer der besten Menschen, die ich kenne.“
„Hast du Hausverbot bei ihm?“ Noch einmal stellte Rabea eine Frage, die Helena zum Stocken brachte.
„Wie kommst du darauf?“, erwiderte sie langsam, blickte stechend über die Schulter und fasste an ihr blondes Haar, als habe sie darin eine Waffe verborgen.
„Ich hab gehört, dass du irgendwas zu Leyla oder Vito oder Adato gesagt hast, zu jemandem, der im Haus war. Vielleicht war es auch Lynn.“
In Helenas Ausdruck zirkulierten unverborgen verschiedene ungnädige Urteile. Ihr pfeilgespickter Blick schoss sich an Rabeas Silhouette entlang, ehe er sich abwandte und sie auch, und Rurik hinter ihr zurückblieb.
„Es ging um das Anwesen der Ratsherrin Cunningham. Dort hab ich, scheinbar, Hausverbot.“
„Was, wirklich?“ Rabeas dunkles Haar flog um ihren Kopf, so gierig war sie herumgewirbelt und Helena nachgestürzt, in der Hoffnung auf eine gute Anekdote aus einem Leben, das sie sich nicht vorstellen konnte und das deshalb einen ganz besonders schmackhaften Eindruck auf sie machte.
Diesmal lächelte Helena. All ihre Gefühle und Gedanken über diese Etappe waren Rinnsale, die in einem unterirdischen Becken zusammengeflossen waren, sich dort vermischt, ihren Zustand verändert hatten und zu absurder Frohsinnigkeit geworden waren; nicht jene Freude, die aus Glück hervorging, sondern deren ungnädige Stiefschwester.
„Ja“, sagte sie in sich gekehrt, den Blick ihrer Gedanken einwärts gerichtet. „Ich frage mich, wie die Ratsherrin auf den Gedanken kommt, ihr Haus wäre für mich besuchenswert...“
Ich bin jetzt wie Cird.
„Warum hast du dort Hausverbot?“ Irgendwo aus dem Hintergrund klang Rabeas Stimme.
„Weil ich Helena Iorga bin.“
„Ah.“ Rabea spuckte vor das Haus, das in Wahrheit weder den Averons, noch einem Brason gehörte, als Helena es schon gar nicht mehr sah. Dann floh sie dem Iorgamädchen hinterher.
In Ossa waren mehr Leute unterwegs als in der feineren Gegend in Rurikstadt. Drei dunkle Kerle schoben einen Karren, der eine Bruchstelle an einem hinteren Rad hatte, und plagten sich ab damit, ihn die Straße hinauf zu bekommen. Die Männer hielten mit ihren Flüchen und ihrer Arbeit inne, als Helena und Rabea vorbeigingen und grüßten freundlich. Sobald die Frauen die Gruppe hinter sich gelassen hatten, begann das Schimpfen und Plagen von Neuem.
„Der Keltim ist nach Ossa gezogen, hast du davon schon gehört, Lenochka?“
„Natürlich. Nenn mich nicht so.“
„Ilie hat dich so genannt.“
„Aber dir steht es nicht zu.“
Rabea zog etwas Flüssiges die Nase hoch und spuckte folglich nur einen kleinen Batzen auf den Bordsteinrand.
„Und spuck hier nicht rum“, bekam sie unverzüglich zu hören.
„Wenn Leyla dich Lenochka nennen würde – wäre deine Reaktion dann auch eine Zurechtweisung?“
Das Iorgamädchen hatte einen schnellen, aufrechten Gang, doch wenn sie vorbeikam blieb im Bewusstsein der Leute dennoch haften, dass sie sich Zeit nahm für jeden ihrer Schritte. Sie passierte den Istanweg und blieb dort kurz stehen, um das Haus der Ophelia Blestem von außen her für einige Herzschläge zu betrachten.
Sie wirkt doch ganz sympathisch. Warum rede ich nie mit ihr?
Fast hatte sie Rabea vergessen. Erst als das dürre Mädchen wieder in die Gegend zu spucken drohte, um dem Pflaster ihr Missfallen aufzudrängen, drehte sich Helena nach ihr um.
„Leyla würde mich nicht so nennen.“
„Und dein anderer Freund? Du weißt schon, wen ich mein.“
„Ich habe keine Ahnung, wen du meinst.“
Wieder dieses Grinsen, es machte Rabea nicht hübscher, aber selbstbewusster; selbstbewusster allemal:
„Du weißt ganz genau, wen ich meine, Lenochka.“
„Ich heiße Helena. Jedenfalls in den meisten Fällen. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen? Wieso auf Wiedersehen? Wo gehst du hin? Wollten wir nicht -“
„Weil du und deine bohrenden Fragen mich langweilen. Schau lieber nach, ob Leyla bei Adeodato war. Wenn nicht, such sie. Oder schick Keiran noch mal los.“
„Wenn du Leyla suchst, schau doch in irgendeinem Loch, in dem es Rum gibt. Ich wette du willst nur allein sein, um...“
Aber den letzten Teil des Satzes hörte Helena schon gar nicht mehr. Sie hatte ihre Hand in die Manteltasche geschoben und war aus einem redlichen Stand in einen kühnen Marsch verfallen. Wie ein Soldat in einem Kleid war sie auf dem kürzesten Weg zum Anwesen gegangen. Dort hatte sie sich öffnen lassen und war geradewegs in den Garten getreten.
„Ich bin jetzt wie Cird“, sagte sie und konnte es immer noch nicht recht fassen.
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