Das Schwierigste war geschafft. Oder zumindest das, was Iverem ursprünglich für das Schwierigste gehalten hatte. Letztenendes hatte die junge Frau ihre kurze Begegnung mit Priesterin Csar als leichter und positiver empfunden, als sie das im Voraus erwartet hatte. Sie hatte eine kurze, einfache Frage gestellt, und eine kurze, einfache Antwort erhalten. Kein Tadel, kein vorwurfsvoller Blick. Immerhin. Auch wenn sie sich die Antwort im Nachhinein vielleicht hätte ausrechenen können... aber das spielt keine Rolle, denn sie hatte Gewissheit haben müssen.
Geduldig hatte die Anwärterin sodann der nächsten Gelegenheit geharrt, in der ihr ein wenig freie Zeit zur Verfügung stünde für kurze Zeit eigener Wege zu gehen. Ausschließlich Sayo erklärte sie wirklich ganz genau, wohin sie ihre Schritte führen würden - nur für den Fall. Aber diese Sache musste und wollte sie allein erledigen. Es war gewiss keine große, wichtige und bedeutsame Angelegenheit, aber es schien ihr einfach das Richtige zu sein. Eine Frage, deren Antwort sie kennen wollte. Die formale Abmeldung erfolgte auf deutlich allgemeinerer Basis, sie werde zur Erledigung einiger Besorgungen für wenige Stunden fort sein, die Stadt aber nicht verlassen. Keines der pflichtmäßigen Gebete oder Veranstaltungen würde sie dazu versäumen.
Es war das erste Mal in den circa zweieinhalb Wochen ihrer Anwärterschaft, dass Iverem das Gelände des Klerus ohne jede Begleitung verließ. Zum ersten Mal erlebte sie bewusst und mit der nötigen Zeit darüber nachzudenken, wie unterschiedlich die Passanten auf ihre Präsenz reagierten, nun da sie das Ornat des Dunklen am Leibe trug. Sie war nicht länger eine unsichtbare Gestalt in der Masse, man bemerkte und beachtete sie. Manch einer begegnete ihr gar mit Scheu, jedoch alle mit Respekt. Die junge Frau wurde indes nicht müde jedem, dessen Blick auch nur etwas länger an ihr haftete, ein freundliches Lächeln und einen höflichen Gruß mit göttlicher Referenz zu widmen. Das Wetter war frisch und kühl, doch Iverem hatte ihre Unterbekleidung zweckdienlich gewählt und musste auf ihrem Weg nicht frieren. In verlässlicher Kenntnis der Gassen ihrer Heimatstadt Götterfels fand sie zielstrebig ihren Weg.
Die Mitarbeiter des Abdeckers waren freundlich. Höflich distanziert, aber doch freundlich und vor allem Willens, ihr zu helfen. Man gab der jungen Frau bereitwillig Auskunft und schon in ihrem zweiten Gespräch stieß sie auf jemanden, welcher sich der Herkunft ihres kleinen Mitbringsels entsann. Sie zeigte es vor - bis dahin wohlverwahrt in einer einfachen Umhängetasche - und ließ dem etwas grobschlächtigen älteren Mann geduldig Zeit, es näher zu betrachten. Allein brauchte er diese kaum und nickte sogleich. Ein Mann hatte den Kadaver eines Hundes als Träger des ledernen Halsbandes vor wenigen Tagen hier abgegeben.
Abgegeben. In Gedanken versunken fand sich Iverem wenig später auf der Straße vor dem Geschäft des Abdeckers wieder und betrachtete das Kleinod in ihren Händen, vor der direkten Berührung geschützt durch den schwarzen Stoff ihrer Handschuhe. Es handelte sich um ein einfaches ledernes Hundehalsband. Schlicht und weit entfernt von einer kostspieligen Machart oder hochwertigen Materialien. Sie hätte sich wohl auch kaum eine Minute damit befasst, wäre da nicht diese grobe Stickerei darauf. Wie von Kinderhand mit Stolz und Liebe angefertigt, seiner tierischen Trägerin den Namen "Lisa" mitzugeben. Iverem versuchte zu begreifen oder zumindest nachzuvollziehen, wie die verschiedenen Puzzlestücke seiner Geschichte einen Sinn ergäben. Einerseits war da die offensichtlich von Herzen geliebte Hündin mit Namen "Lisa", durch einen Karren überfahren und so jäh aus dem Leben gerissen. Dass der Kadaver dem Abdecker übergeben wurde, erschien der Anwärterin indes nur vernünftig und natürlich. Aber weshalb hatten sie ihr nicht zuvor das Halsband abgenommen und für sich behalten?
Sie atmete einmal tief durch. Die kühle, von verschiedensten Gerüchen durchsetzte Luft füllte ihre Lungen. Iverem schaute von dem Halsband wieder auf, ließ ihren Blick durch die Umgebung schweifen und nahm die Eindrücke nur oberflächlich in sich auf. Sie atmete wieder aus und versuchte sich zu besinnen. Sie stand am Rande der Gasse und somit keinen Fuhrwerken im Weg, während die Passanten ihr ob der Farben der getragenen Kleidung ohne Murren auswichen. Nicht ein Rempler störte Iverems Gedanken, auch als sie nun die Augen schloss und sich wieder zu sammeln suchte. Wie sie es inzwischen nicht selten tat, flossen die Worte des Gebets zu ihrem Gott durch den eigenen Geist. Diese Zeilen waren es, unter denen sie nach Orientierung suchte.
Abgeben. Loslassen. Letztenendes waren es diese Worte, die ihr wieder in den Sinn kamen, als sie mit neuer Zuversicht die Augen öffnete. Ein feines Lächeln zeichnete sich um ihre Mundwinkel ab, der Blick ging gedankenverloren in die weite Ferne. Was hatte Sayo noch gleich gesagt, als sie mit ihr über die Trauer um Verstorbene gesprochen hatte? Wahrscheinlich war sogar der kindliche Besitzer der Hündin ihr dahingehend weit voraus gewesen. Es half doch niemanden, sich an einen einfachen, dünnen Lederriemen zu klammern, der seinen Zweck überlebt hatte. Die Situation wäre eine andere gewesen, wenn ihre Befürchtung eingetroffen wäre, dass man noch auf der verzweifelten Suche nach "Lisa" und in Unkenntnis über deren Schicksal gewesen wäre. Aber so wie die Dinge liegen...
Befreit, mit einem fast unbeschwerten Lächeln machte Iverem noch einmal kehrt. Erneut sprach sie einen der Angestellten des Abdeckers an und bat darum, auch das Halsband der regulären Entsorgung zuzuführen. Vielleicht war es, weil sie so freundlich bat und dazu lächelte... zumindest nahm er man die Bitte an und kommentarlos hin. Die Anwärterin bedankte sich artig und ließ den Mann auch rasch wieder ungestört seine Arbeit machen. Wenige Minuten verweilte sie noch, betrachtete mit verhaltener Neugier aus dem Hintergrund das wenige, was sie von der Arbeit dieses Berufsstandes erblicken konnte. Dann machte sie sich in guter, beruhigter Stimmung auf den Rückweg zum neuen Mittelpunkt in ihrem Leben. Dem Tempel des Grenth.
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