Zwei Monate - so lange ist es her, dass die 19jährige Iverem Ekweni ihre Weihe zur Anwärterin erfuhr.
Zwei Monate - in denen ihr Leben zugleich einfacher und komplizierter geworden ist.
Zwei Monate - über deren Zeitraum hinweg sie sich aus freien Stücken des Kontaktes zur eigenen Familie enthalten und Verzicht geübt hatte.
Zwei Monate - die nun in dieser einen Hinsicht ein Ende finden.
Der Weg war nicht weit, den Iverem zurückzulegen hatte, und doch hat sie ihn lange gescheut. Ganz und gar hat sie sich auf ihr neues Leben einlassen wollen, die Ablenkung durch den alten Alltag mit all seinen Nöten und Sorgen gemieden, hierfür schon beim damaligen Abschied das Verständnis ihrer Familie erfahren. Die ersten Tage über war es ihr leicht gefallen, neue Eindrücke waren nur so auf sie hereingeprasselt. Als das neue Leben im Weiteren jedoch zunehmend zu einem neuen Alltag wurde, sie erste Konflikte mit ihrem neuen Umfeld erlebte, begann Iverem ihre Familie und die vertraute Umgebung phasenweise ungeheuer schmerzlich zu vermissen. Wäre da nicht Sayo als verlässliche Konstante und Vertraute gewesen... kaum wäre sie im Stande gewesen, die Umstellung so gut und mit so wenig Tränen und Schmerz zu bewältigen.
Inzwischen hat sie sich eingelebt und sich über diesen Prozess zugleich - trotz weiterhin vorhandener Sehnsucht nach der Familie - irgendwie an den Verzicht gewöhnt. So lange und so tapfer hatte Iverem den Verzicht durchgehalten, dass sie insgeheim zauderte sich den Besuch erlauben.
Irgendwie albern. Die Enthaltsamkeit hatte ihren anfänglichen Sinn überlebt und war zu einer reinen, unnötigen Gewohnheit geworden. Im Gespräch mit Tora war sie sich dessen erstmalig so richtig bewusst geworden und hatte seither den Entschluss gefasst, die nächste Gelegenheit zu ergreifen und sich den Besuch im eigenen Elternhaus einfach zu gönnen.
Doch wie würde es nun sein? Hatten sie es auch wahrhaftig akzeptiert, ihre Tochter, Schwester, Enkelin und Nichte für so lange Zeit so gar nicht zu Gesicht bekommen? Hatte sie sich in mancher Hinsicht verändert, die ihr womöglich gar nicht bewusst war?
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In ihr stets gepflegtes, sauberes Ornat von charakteristischem Schwarz, Grün und Grau gekleidet führen die Schritte der Anwärterin sie von der Tempelanlage des Grenth-Klerus in das benachbarte Ossa-Viertel von Götterfels. Begleitet von den üblichen, längst gewohnten Reaktionen der Passanten folgte die junge Frau wohlbekannten Gassen bis hin zu einer schlichten, einfachen Tür. Sie verharrt in einem Moment wachsender Anspannung, gar ein wenig Nervosität und klopft schließlich an.
"Iverem...! Kind!" Die überraschte Miene ihrer dunkelhäutigen Mutter Nyarai ist das erste, was die junge Frau zu Gesicht bekommt. Ein Strahlen überschwänglicher Freude breitet sich von deren Antlitz bis in das der Tochter aus, sogleich fallen die Anspannung und alle Befürchtungen von ihr ab. "Mama!" Sie fallen einander in die Arme und drücken einander so fest, dass es fast weh tut. Weder die eine noch die andere kann ihre Tränen der Freude zurückhalten. Ein leises Schluchzen entfährt der Heimgekommenen und sie vergräbt ihr Gesicht am mütterlichen Hals.
Die Szene bleibt im Hause nicht lange unbemerkt und schon späht aus dem Hinterzimmer der Vater Thabo hinein, eilt nach kurzem Staunen mit wenigen, langen Schritten durch den Raum. "Meine Tochter..." spricht er mit rauher Stimme, während die Angesprochene mit feuchten Augen sich von ihrer Mutter löst, sich ihm zuzuwenden. "Papa..." wird auch er sogleich fest in den Arm genommen und herzlich gedrückt. Nyarai betrachtet die beiden gerührt. "Liebe Güte... Du siehst so erwachsen aus, meine Kleine." spricht sie in warmem Tonfall, als die väterliche Umarmung gelöst wird, Iverem dessen Arm allerdings noch hält und der tränennasse, glückselige Blick zwischen beiden Elternteilen pendelt. "Ich habe euch so vermisst..." spricht sie ergriffen, wird sich dessen in diesem Moment des Wiedersehens so richtig wieder bewusst. Dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und auch dessen hohen Wuchs geerbt, war sie im Wesen der kleineren Mutter nach geraten. So hält diese ihre Herzlichkeit auch nicht zurück und zeigt ganz offen ihre große Freude, während Thabo ruhiger und zurückhaltender, jedoch nicht minder bewegt reagierte. "Kommt, wir wollen hinauf gehen in die gute Stube. Und dann musst du uns erst einmal alles erzählen, meine kleine Iverem. Ich mache uns erstmal einen schönen, warmen Tee... du hast doch etwas Zeit?" spricht Nyarai und nimmt die Tochter beim Arm, um sie zur Treppe zu führen. Die unteren Räumlichkeiten des Hauses werden von Geschäft und Werkstatt beansprucht und sind dementsprechend mit allerlei Werkzeug zur Buchbinderei, verschiedenen Pergamenten und Schreibmaterialien gefüllt, im Hinterzimmer steht die kleine Druckerpresse. "Thabo, die Arbeit kann jetzt warten, wir werden erst morgen wieder etwas auszuliefern haben..."
So gehen sie gemeinsam die knarzende, schmale Holztreppe hinauf. Von der Wärme des heimischen Herdes umfangen genießt Iverem die sich unaufhaltsam ausbreitende Geborgenheit. Am Küchentisch sitzen die drei bald einträchtig beeinander. Die Mutter kocht den versprochenen Tee und schon befindet man sich im regen Austausch darüber, was man in der Zwischenzeit so erlebt habe. Ausführlich berichtet die Anwärterin von ihren ersten Eindrücken im Dienst für den Dunklen. Auch von schwierigen Situationen, aber insbesondere von den heiteren Ereignissen ist die Rede, von der großen Stütze, die sie in neuen Freundschaften gefunden hat. Erschöpft von den vielen Worten lauscht sie anschließend mit nicht geringerem Interesse den Ausführungen ihrer Eltern, zum Befinden der übrigen Verwandten und Bekannten, sowie auch dem Lauf des Geschäfts. Später kehrt der jüngere Bruder Kwame von einer Lieferung zurück und wird nicht minder überschwänglich begrüßt. Gleich wieder ausgeschickt holt er noch ihre Großmutter Zuri, Großvater Dayo und Onkel Otieno hinzu. Erneut berichtet Iverem in aller Ausführlichkeit von ihren Erlebnissen und so sitzt man lange beieinander. Nyarai sorgt für steten Nachschub an Tee und Otieno als gelernter und talentierter Koch zaubert eine bescheidene, jedoch köstliche Mahlzeit. Iverem nutzt indes die Gunst der Stunde und fördert aus einer kleinen Umhängetasche einige Zutaten - Kichererbsenmehl und Pistazien - zu Tage, bei deren Verarbeitung zusammen mit weiteren Gewürzen aus der elterlichen Küche sie die Hilfe ihrer Großmutter nur allzu gerne annimmt.
Wenige Stunden vergehen wie im Flug und sie hätte wohl bis tief in den Abend noch bleiben können. Doch weder Iverem noch ihre Familie können sich von den Zwängen des Alltags und der eigenen Pflichten auf Dauer gänzlich lösen. Die Zeit des Abschieds ereilt sie unweigerlich und ist doch keine traurige. Das feste Versprechen einer baldigen Rückkehr sowie alsbald häufigerer Besuche mildert den beiderseitigen Schmerz, wie auch das erleichternde Bewusstsein die Umstellung insgesamt gut überwunden zu haben.
Wieder draußen auf der Straße schließt sich die Türe hinter der Anwärterin. In ihrer Tasche trägt sie zwei noch warme, wohlduftende Päckchen aus der gemeinsamen Arbeit mit Zuri. Ihr Onkel begleitet sie auf dem ersten Stück, bis sich beider Wege trennen würden. Zufrieden und voller Glück geht Iverem schweigend neben ihm her, ohne dass auch er das Bedürfnis zu haben scheint die Stille zu durchbrechen. So vieles war an diesem Nachmittag schon gesagt worden, man ist schlicht froh um die restliche Zeit in der gegenseitigen Gesellschaft. Erst auf den letzten gemeinsamen Schritten meldet die junge Frau sich zu Wort: "Onkel Otieno...?" Der Angesprochene sieht seitlich zu ihr her. Ihrem Tonfall war deutlich zu entnehmen gewesen, dass sie etwas von ihm wollte. Er schmunzelt und erwidert mit amüsiertem Unterton: "Ja, Iverem?" Jene wird etwas langsamer und bleibt stehen, um sich ihm ganz zuzuwenden. Otieno tut es ihr gleich und lauscht der Nichte mit fragend gehobenen Brauen. "Sag mal... wäre es wohl möglich, dass ich dir hin und wieder ein wenig in der Küche aushelfe? Ich meine... soweit meine Zeit das erlaubt? Ich würde mir gerne ein bisschen etwas dazu verdienen." Überrascht mustert der Onkel sie, kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf. "Möglich wäre das schon, natürlich... aber wozu brauchst du denn das Geld? Versorgen deine Priester dich nicht gut?" Iverem stutzt und lacht leise auf, winkt beschwichtigend ab. "Doch, doch... Natürlich. Ich bin gut versorgt und habe wirklich alles, was ich brauche." Sie lächelt verlegen und räuspert sich kurz. "Allerdings... gibt es da etwas, was ich mir ~wünsche~ und das ist nicht ganz so billig. Ich möchte gerne dafür sparen, auch wenn es wahrscheinlich etwas länger dauert." Mit gesenktem Haupt sieht sie ihn von unten herauf bittend an. "Abgesehen davon... wäre es doch auch eine gute Gelegenheit, dass wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen... nicht wahr?" Nun ist es an Otieno laut aufzulachen. "Schon gut, schon gut..." hebt er - noch immer lachend - beschwichtigend die Hände. "Ich werde sehen, was sich machen lässt.. Du schreibst mir einfach auf, zu welchen Zeiten du aushelfen kannst, und ich gebe dir dann bescheid, wann ich dich gebrauchen kann. Viel kann ich dir an Entlohnung allerdings nicht bieten... nicht mehr als einer einfachen Küchenhilfe, fürchte ich. Würde dir das denn genügen?" Iverem strahlt förmlich auf. "Ja, ja, das würde es!" Sie fällt ihrem Onkel spontan um den Hals und drückt ihn noch einmal ganz fest an sich. "Danke, Otieno... Danke! Noch heute schreibe ich dir alles auf." Nicht überrascht vom Überschwang seiner Nichte drückt der Mann sie einen Augenblick an sich. "Ist ja gut, ist ja gut... Jetzt müssen wir aber beide zusehen, dass wir wieder an die Arbeit kommen. Sei weiter schön fleißig, Iverem, damit wir stolz auf dich sein können." Er zwinkert ihr zum Abschied freundlich zu und wird dafür mit einem breiten Grinsen belohnt. "Grenth mit dir, Otieno!" winkt sie ihm hinterher.
Ein beschwingter Gang bringt die Anwärterin zu den Unterkünften der Novizenschaft zurück. Ihre Laune könnte nicht besser sein und das aus jedem Gruß ihrer an einen anderen Anwärter, Novizen oder auch Priester nur so heraustriefende Glück mag manchem fast auf die Nerven gehen. Kein Wässerchen kann Iverems Hochgefühl in dieser Stunde trüben. Zielstrebig begibt sie sich zu ihrem Zimmer, um noch eine kleine Schreibarbeit durchzuführen. Anschließend war sie noch kurz bei den Fächern zu sehen und begab sich dann direkt zum Schrein, um sich weiterhin voller Freude einer kleinen, privaten Andacht zu widmen.
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