„Was soll heißen, er ist nicht zu sprechen?“
Er hätte sich bei Gideons Frage gern die Stirn gerieben, denn sie ermüdete ihn. Es war eine tiefer sitzende Müdigkeit, die nicht allein die Glieder befiel, sondern schon längst in den Knochen wohnte, um sich von dort der Seele anzunähern.
„Es ist schon ein starkes Stück, dass er es sich wagt, uns hier so lange...“ Gideon schwieg, als ihn jäh der Blick aus den grauen Augen seines Gegenübers traf. Magnus hob etwas die Schultern an, um sie von dort aus nach hinten kreisen zu lassen. Es half nur leidlich gegen die Verspannung, die schon feste Knoten gebildet hatte. Kurz erlaubte er sich den Gedanken an geschickte Hände, die diese Knoten lockerten, doch wo Gideon begriffen hatte, wann es zu schweigen galt, da war sein Begleiter weniger feinfühlig und ließ seine geballte Faust auf den Tisch hinab fahren, an dem die drei Männer saßen. Magnus Becher sprang sogar etwas hinauf, sodass sich Kaffee verschüttete, was den Mann lächeln ließ. Ein Lächeln, das Gideons Begleiter fälschlicherweise als Spott auf sich bezog, woraufhin es gleich noch einmal krachte, als sich zu der ersten Faust scheppernd eine zweite gesellte. Diesmal sprang der Becher so nah an den Rand des Tisches, dass er beinahe herunter fiel. Gideon sog scharf die Luft ein, doch Magnus blieb weiterhin stumm.
Er betrachtete den aufbrausenden Mann mit enervierender Ruhe, sah mit morbider Faszination dabei zu, wie sich die roten Flecken auf den eingefallenen Wangen mehrten und kam nicht umhin sich zu fragen, wie ein derartig dürrer Mensch zu einem so hohen Blutdruck kam. Gideons Begleiter begriff, dass er sich mit den Faustschlägen in eine Situation gebracht hatte, die mehr erforderte als allein das, deshalb hob er schneidend an: „Wir verlangen ihn zu sehen!“ Gideon, ein Mann ein wenig über seinem besten Alter und Gewicht, hob die Augen in stummem Flehen gen Zimmerdecke. „Wir haben vor mit ihm Geschäfte zu machen. Nicht mit seinem Hund. Dass er uns warten lässt, ist...“
Magnus hatte sich erhoben. Er hatte es nicht schnell und abrupt getan, doch so, dass es den kurzen Monolog des Dürren nachhaltig unterbrach. Gideon schloss die Augen. Der Ansatz seines zweiten Kinns bebte. „Wie Ihr wünscht.“ Gideon riss die Augen gleich wieder auf, als er diese Worte von Magnus vernahm, gerade rechtzeitig, um dessen halbe Verneigung zu sehen. „Dann wird sich allerdings ein neuer Termin finden müssen, denn er ging davon aus, dass Ihr mit mir sprechen werdet. Ist es den Herren morgen um dieselbe Zeit genehm?“ Magnus wusste, was auch die Herren vor ihm wussten. Nämlich dass sein feiner Anzug, seine gewählte Sprache nicht über den Umstand hinweg täuschen konnten, dass seine Herkunft eine einfache war. Sie blickten -trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Angst vor ihm- auf ihn herab. Eine jüngere Version von ihm wollte sich aufrichten, wollte diesen Männern auf ihre Weise einbläuen, was ihre Vorstellungen Wert waren. Wollte mit Gewalt auf Ignoranz und Standesdünkel reagieren, doch der Moment verging und Magnus beunruhigend echtes Lächeln blieb, wo es war, genau wie der ganze Mann.
Gideon fasste sich als erster wieder und sagte: „Die selbe Stunde. Wie beginnt man einen Tag besser, als mit einem guten Frühstück. Wenn sich dann auch noch ein gutes Geschäft anschließt...“ Er lachte nervös, doch es war unbegründet, denn die drei Männer reichten sich noch als wären sie auf Augenhöhe die Hand, bevor ein jeder für diesen Tag seiner Wege zog.
Alice biss im Gehen in ihr Brot hinein. Es war trocken und fad und sie dachte mit einer gewissen Wehmut an die Frikadellen zurück, die es heute im Maidenwispern gegeben hatte. Sie war nicht dazu gekommen, eine davon zu kosten und überlegte nun, ob sie noch einmal umkehren sollte. Doch sie hatte ihre Werkstatt beinahe erreicht, das schreckliche Orchester im Marktviertel hinter sich gelassen und musste nur noch drei Querstraßen passieren bis zu ihrem Ziel. Genau sechshundertvierunddreißig Schritte waren es bis dort. Sechshundertdreiunddreißig nur noch, bis sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte. Sechshundertzweiunddreißig, als sie mit der Rechnung über die bereits zurückgelegten Schritte fertig war und sechshunderteinunddreißig, als sie diese zurückgelegten Schritte gegen eine Frikadelle aufwog. Es würden welche übrig bleiben. Bestimmt sogar. Soren würde sie ihr zum Frühstück bringen müssen, so viel stand schon einmal fest. Als sie bei sechshundertvierzehn angekommen war, passierte sie eine Gasse.
„Bereust du es manchmal?“ Alice blieb stehen und sah sich um. Gerade als sie sich sicher war, dass sich zu den Stimmen ihrer Gedanken noch ein weitere gesellt haben musste, weil sie niemanden erblickte, sprach der Mann -überraschenderweise oder vielleicht auch nicht waren es oft Männer, die in ihren Gedanken ihr Tun kommentierten- erneut. „Bereust du es, gegangen zu sein?“ Sie kam sich ein wenig zu dumm vor, um zu fragen, ob damit nun die verpasste Chance auf eine Frikadelle gemeint war. Das erschien ihr selbst für ihre eigenen Maßstäbe ein wenig zu verrückt. „Ich bereue es.“, sagte der Mann, den sie noch immer nicht sehen konnte. Natürlich nicht. Vermutlich, die Wahrscheinlichkeit war nicht sehr gering, existierte er nur in ihrem Kopf. Alice wartete einen Moment, doch anstelle von weiteren Worten folgte ein Geräusch, dass sie erst nach einer kleinen Schrecksekunde als Knurren ihres Magens erkannte. Sie sah sich ein klein wenig peinlich berührt um, doch hier war niemand, der das hätte bemerken können. Schließlich lachte sie. „Ist ja gut, ist ja gut.“, sprach sie gegen die Dunkelheit an, drehte um und ging die zweitausendsiebenhundertdreiundzwanzig Schritte zurück zum Maidenwispern, fest und nur ein klein wenig zu schnell den Frikadellen entgegen.
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