Erinnerungen
„All die Bruchstücke, die ein Leben ausmachen. Die Beweisstücke, Geheimnisse und Geschichten - sie ergeben ein Bild. Erinnerung für Erinnerung. Wie ein Puzzle, das aus unzählig vielen Teilen zusammengesetzt werden muss. Ein Leben lang. Und doch wird es niemals vollständig sein, weil es niemals nur ein Bild ist...”
„Was flüsterst du so Tiefgründiges in dein Glas, Liebchen? Ist doch nicht mal mehr was drin.”
Elyzabet hob ihren Kopf. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie die Worte vor sich hin murmelte.
Die Frau hinter dem Tresen erwiderte ihren Blick freundlich: „Anstrengender Tag, was?” Das scheue Nicken des Rotschopfes reichte ihr als Antwort. Sie stellte das Glas, das sie eben noch mit einem Tuch poliert hatte, neben Elyzabets leeres Glas auf die Theke und holte eine Flasche mit goldgelbem Inhalt unter der selben hervor. Als sie den Korken aus dem Flaschenhals löste, machte es kurz Plopp. Elyzabet konnte das rauchige, ein wenig torfige Aroma des Getränks bereits riechen, als die Barfrau in beide Gläser eingoss.
„Ein echter Caledon Dew, so was schenke ich nicht alle Tage aus, Liebchen.”
Die grünen Augen des Rotschopfes betrachteten die beiden Gläser kurz, bevor die Barfrau ihres nahm und leicht schwenkte, so dass der Whisky wie flüssiger, goldener Samt hin und her schwappte.
„Was auch immer dir heute das Herz schwer macht, die Sonne geht auf und sie geht wieder unter. Jeden Tag bis zum verdammten Ende der Welt. Und so lange du zum Himmel schauen kannst und nicht das verdammte Ende der Welt siehst, wird alles wieder besser. Vielleicht nicht gut, aber auf jeden Fall besser”, sie hob das Glas an ihre Lippen und nahm einen großen Schluck. „Ah, ein richtig guter Tropfen, Liebchen”, sie stellt das Glas wieder ab und betrachtete die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war. „Du siehst so aus, als bräuchtest du nicht nur einen Drink, sondern auch ein offenes Ohr, wenn dir meine abgedroschenen Barfrauenweisheiten nicht mal den Hauch eines Lächelns entringen können... Falls du also reden willst, Liebchen.”
„Meine Freundin ist gestorben”, wisperte Elyzabet.
„Bei den Sechs! Das ist ja...”, die Barfrau schluckte und ihr Blick verfinsterte sich, „schrecklich, Liebchen!”
„Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich sollte wieder gehen. Tut mir leid.”
Die Barfrau lächelte und fasste Elyzabet, die im Begriff war aufzustehen, sanft am Handgelenk: „Ist schon in Ordnung.”
„Willst du die Geschichte wirklich hören?”
„Um ehrlich zu sein nicht, aber du solltest wirklich mit jemandem reden. Und da du hier schon den ganzen Abend allein sitzt, nehme ich an, dass es im Moment niemandem gibt, dem du davon erzählen kannst... Ich bin Mandi Copperbeaker. Lass mich den beiden Suffköpfen da am anderen Ende des Tresen nur schnell nachschenken.”
„Ihr Name war Mirage. Als wir Kinder waren hat sie mich beim Klauen auf dem Markt beobachtet und mich vor den Seraphen gerettet. Von dem Tag an waren wir unzertrennlich.”
„Mirage Varghes, eh? Haus Dorogon.”
Elyzabet nickte.
Mandi schenkte noch einmal nach: „Dann bist du die kleine Ely. Als sich in den Gassen herum sprach, dass einer der kaltblütigsten Männer in Fels auf Drängen seines einzigen Kindes ein kleines Mädchen adoptieren wollte, haben einige fragwürdige Gestalten geglaubt, seinen Schwachpunkt gefunden haben. Arme Teufel. Haben für ihre Einfalt bezahlt - aber das ist eine andere Geschichte. Ich wollte dich nicht unterbrechen, Liebchen.”
„Sie war meine beste Freundin, meine große Schwester. Wir sind zusammen aufgewachsen. Alles, was ich kann, habe ich von ihr gelernt. Sie war immer für mich da. Ich hätte mein Leben für sie gegeben und sie hätte das gleich getan, als wir noch Kinder waren. Und später... habe ich nie jemanden so sehr geliebt wie sie.”
„Du meinst...”
Wieder nickte der Rotschopf nur und nahm einen Schluck von dem Whisky, „Ich habe es ihr nie gesagt und sie hat sich in jemand anderen verliebt.”
„Kylar, wenn ich mich recht entsinne.”
„Ja, Kylar. Ich habe ihn nie gemocht.”
„Ein sehr gefährlicher junger Mann.”
„Ich glaube”, Elyzabet lächelte zum ersten Mal an diesen Abend, zum ersten Mal seit sie von Mirages Tod erfahren hatte, „er wusste es. Er war immer so eifersüchtig, hat immer versucht, sich zwischen uns zu drängen. Und er hat es tatsächlich geschafft. Seinetwegen hat sie mich verraten. Wir hatten einen Bruch geplant. Lange Zeit und sehr gründlich. Ein Kinderspiel eigentlich, aber an dem Abend ging alles schief. Als die Seraphen kamen, musste Mirage entscheiden, wen sie kassieren sollten... und sie hat mich zurückgelassen.”
„Wie lange warst du im Kerker, Liebchen?”
„Nicht lange. Ich habe... Freunde, die mir geholfen haben und Kylar hat die ganze Geschichte so aussehen lassen, als hätte ich uns verraten. Dass ich so schnell wieder draußen war, hat diese Lüge nur genährt. Als ich zu Mirage zurückkehren wollte, hat sie mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mich töten wird, falls ich ihr je wieder unter die Augen komme.”
Mandi füllte die Gläser ein weiteres Mal auf: „Sie hat dich gehen lassen. So viel ich über die junge Varghes weiß, war das eher untypisch. Ich schätze, du hast ihr viel bedeutet.”
„Sie hat sich verändert. Das Mädchen, das mich vor den Seraphen gerettet und immer beschützt hat, ist irgendwann verschwunden.”
„Ich schätze, es ist nicht einfach, das einzige Kind eines Kartellmeisters zu sein. Nicht, wenn dieser ein so grausamer Mann ist, wie Varghes. Das ist ein schweres Erbe, das auf Blut und Angst gebaut wurde.”
„Wir hätten Fels zusammen verlassen können, aber sie hat sich für diesen Weg entschieden. Ich habe versucht, dem Haus Dorogon aus dem Weg zu gehen, aber sie im Auge zu behalten. Manchmal habe ich ihr geholfen. Aber sie hat es nie bemerkt. Ich bin verschwunden, bevor sie mich entdecken konnte. Und dann ein paar Jahre nach dieser Geschichte, hat sie mich aufgespürt und mir angeboten, wieder Teil des Kartells zu werden.”
„Und du hast angenommen, schätze ich?”
Elyzabet drehte das Glas zwischen ihren Fingern und betrachtete die geschmeidig Bewegung der goldgelben Flüssigkeit darin. „Wie hätte ich ablehnen können. So konnte ich wieder bei ihr sein. Natürlich war Kylar nicht besonders erfreut darüber. Und ich hatte den Eindruck, dass sein Bild in Mirages Augen langsam an Glanz verlor. Er konnte sich also nicht mehr darauf verlassen, dass sie ihm blind vertraute. Kylar war eine Schlange, die im Dunkeln darauf lauerte, ihr Gift zu verspritzen. Und natürlich kam die Gelegenheit.”
„Was ist passiert?”
„Er hat ein paar seiner Söldner auf mich angesetzt”, der Rotschopf nahm einen großen Schluck, „Sie waren keine wirkliche Herausforderung. Aber Kylar hatte schon damit gerechnet.”
„Es sieht nie gut aus, wenn man seine eigenen Leute töten, eh?”
„Er hat seine Geschichte gut erzählt und ich musste Götterfels verlassen. Ich habe mich ein paar Jahre in Löwenstein durchgeschlagen aber... Du kennst die Geschichte. Also bin ich nach Fels zurückgekehrt, um wieder ein Auge auf Mirage zu haben. Aber ich habe sie kaum wiedererkannt. Jetzt ist sie tot und ich bin frei.”
„Frei?”
„Ich habe den alten Bluthund bei den Ruinen getroffen. Das Kartell hatte all die Jahre eine Belohnung auf meinen Kopf ausgeschrieben”, Elyzabet lachte bitter, „Aber nun werden sie glauben, dass ich zurückgekehrt und auch in dem Feuer gestorben bin. Der Alte wird ihnen schon eine gute Geschichte erzählen... Und ich schätze es stimmt: Die kleine Ely ist in den Flammen zusammen mit Mirage verbrannt.”
Intro
Es gibt zwei Sorten von Ratten
Die gemeinsame Kindheit mit Mirage
Ein Tag wie jeder andere
Geburtstag
Seraphen und andere Probleme
Der neue Klingenmeister
Weil sie uns niemals kleinkriegen werden
Henry von Greifenstein
Das Ende der Freundschaft zu Mirage
Blut
Wir. Töten. Diese. Ratte.
Kein Feuer so heiß *Spoilerwarnung*
Das Feuer
Erinnerungen
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