Fortsetzung zu: Das Tal der Tränen (Lineth)
Lineth schaute apathisch an die Decke des Kerkers. Dies tat sie dauernd, jeden Tag, seit nunmehr einem Jahr. Ihr Gesicht war beinahe zur Gänze von Schmutz bedeckt, ihre Augenlider hingen tief und selbst ihr Lächeln, ihr unbändiger Lebenswille schien verloren. Tag ein Tag aus. Ketten rascheln, Wassergeplätscher, ein Mann der die Stufen hinab stieg, das abstellen einer Schüssel, ein Mann der die Stufen hinauf stieg, Ketten rascheln. Das selbe Prozedere, die selben Geräusche, wieder und wieder. Kein Lachen, keine Stimmen, nicht einmal das knistern eines Feuers oder das wehen des Windes. Nicht nur ihre Sinne litten unter der Isolation, ihre gesunde Hautfarbe wich einem Leichenblass und ihr Körper war übersät mit roten Flecken die zu Wunden wurden. Es juckte, also kratzte sie. Nachts riss sie sich wie im Wahn Haare aus dem Skalp und schürfte sich an den Wänden des Gewölbes die Finger wund, was selbst am nächsten Morgen, wenn sie unter Schmerzen erwachte, nicht in ihren Erinnerungen auftauchte. Sie war gebrochen. So gebrochen, das sie sich selbst ihrer Einsamkeit und ihrem Selbstzerstörerischem Verhalten nicht mehr bewusst war.
Eines Tages öffnete sie die Augen. Sie sah nichts, Schwarz. Die selbe Schwärze wie jeden Tag. Hatte sich etwas verändert? Sie war sich unsicher. War das Schwarz noch schwärzer geworden? Sie starrte gebannt in die Dunkelheit, rührte sich nicht als sie plötzlich ein beinahe vergessenes Geräusch vernahm. Eine Stimme? Ihr Blick wanderte durch den Raum, doch in jeder Ecke der selbe Anblick. Schwarz, nein hier war niemand. Oder doch? Wieder vernahm sie die Stimme und erneut sah sie sich um. Als sie ein weiteres mal nur tiefes Nichts fand, sackte sie wieder zu Boden und rollte sich ein. Sie fror. Doch fror sie mehr als sonst? Ihren eisigen Atem sah sie nicht, doch spürte sie ihn. Er schien sie zu verschlingen, zu umhüllen. War hier jemand? War hier jemand anderes, der ebenso fror wie sie und hauchte sie an? Genau so veschollen wie der Klang einer Stimme, war das Gefühl der Angst, das sie in diesem Moment zu überkommen schien. Wer auch immer es war, sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Doch was machte es aus? War sie nicht bereits vergangen? "Wenn ich bereits war und nicht mehr bin, wieso sollte ich mich sorgen?" flüsterte sie und doch schien es ihr, als hätte sie diese Worte gerufen. Niemand antwortete doch sie sprach weiter. "Ich bin nicht mehr, ich bin gewesen! Bist du gewesen oder bist du? Bist du ein Wesen?" war ihr nächster, verzweifelter Versuch auf eine Erwiderung. Wieder nichts. Nach ettlichen Stunden des aussprechens sinnleerer Sätze fiel sie der Müdigkeit zum Opfer. Sie fühlte sich kraftlos und entmutigt, hatte sie doch einen Schimmer der Hoffnung gefunden und ihn gleich wieder verloren.
Erneut das selbe Spiel. Ketten rascheln, Wassergeplätscher, ein Mann der die Stufen hinab stieg, das abstellen einer Schüssel, ein Mann der die Stufen hinauf stieg. Etwas fehlte. "Ketten rascheln, Ketten rascheln!" wiederholte es sich immer wieder in ihrem Kopf, doch es blieb aus. Ein kleiner Lichtstrahl drang in ihr dunkles Zuhause. Er war so wunderschön, noch nie zuvor hatte sie etwas derart schönes gesehen. Vorsichtig, fast schon ängstlich streckte sie ihr dürres Ärmchen nach dem hellen Strahl, beinahe so, als wolle sie ihn greifen. "Nie zuvor?" ersetzte nun den vorherigen Gedanken und sie verfiel in Starre. "Schwester.." murmelte sie leise bevor sie in Tränen ausbrauch. So viele Erinnerungen kamen in ihr hoch, zuviele. Ihre Emotionen spielten verrückt. Lachen oder Weinen? Schreien oder schweigen? Lineth atmete schwer, unkontrolliert und hektisch. Ihr Kopf fühlte sich an, als könne er jeden Moment explodieren und ihr Herz raste. Sie wollte sich dem Licht nähern doch ehe sie auch nur einen Schritt machen konnte, verlor sie ihr Bewusstsein und ihr regungsloser Körper stürzte auf den Grund des Kerkers.