Von jeher war es Tradition in der Familie Hauser, einmal im Jahr ein bestimmtes Ritual abzuhalten. Hierbei ging es nicht um Glauben oder Weltanschauung, sondern darum sich von seiner Trauer und den negativen Gedanken zu befreien. Begonnen wurde mit dieser Zeremonie sobald ein Familienmitglied das 8. Lebensjahr erreicht hatte. Weigerte sich jemand, so wurde dieser Person böse Absichten nachgesagt und das führte zu harschen Konsequenzen. Nicht nur nahm man ihr sämtliche, von der Familie bezahlten Güter und Unterkünfte, auch wurden sie für ein ganzes Jahr in den Hauseigenen Kerker des Stammsitzes gesperrt. Eine gute Behandlung hatte man als Verräter nicht zu erwarten. Es gab nur das nötigste, gerade genug um nicht zu sterben und Kontakt zu Verwanten war strengstens Verboten. Auch der Diener, der zweimal am Tage die Stufen in das Kellergewölbe hinab stieg um die weggesperrten zu versorgen, durfte nicht ein Wort mit ihnen wechseln. Diesen Ort bezeichnete man als "Tal der Tränen".
Es war ihr 8. Geburtstag, das ganze Haus war voller Schleifen, Luftballons und anderem was einer 8. jährigen eben so gefiel. Alles war farbenfroh und über die Grenzen des guten Geschmacks hinweg mit Dekorationskram verziehrt. Noch im Halbschlaf stand Lineth, nur in ihrem Nachthemd bekleidet und mit nackten Füßen, vor der geschlossenen Türe ihres Zimmers und rieb sich gähnend die Augen. Es klopfte. "Schwesterherz, es ist soweit. Kommst du bitte?" drang es vom Flur des Hauses in ihre Ohren. Sie war nervös, beinahe ängstlich weswegen sie nur zögerlich öffnete und vorsichtig durch einen Spalt hinaus lugte. Als sie Shello dort stehen sah, voller Stolz und so wunderschön in ihrem Schulterfreien, violett - schwarzem Kleid, verschlug es ihr die Worte. "Nun komm schon, alle warten." sprach ihre Schwester in ruhigem, verständnisvollem Ton und streckte ihr eine Hand entgegen. Lineth nickte kurz, verließ dann langsam ihr sicheres Nest und die Beiden gingen gemeinsam den langen Flur entlang bis zu der großen Eingangshalle, wo sich eine kleinere Menschenmenge versammelte.
Als sie dort eintrafen, begannen die Anwesenden damit sich zu verbeugen und die Schwestern mit diversen Formeln zu begrüßen. Shello knickste elegant und Lineth versuchte ihr nachzueifern, was bei ihr jedoch sehr unbeholfen aussah. Die Männer schmunzelten daraufhin und die Damen konnten ihr typisches Gelächter nicht zurückhalten. Sich schämend, stand sie doch nur im Nachthemd da und machte sich zum gespött, suchte die 8 Jährige Schutz bei ihrer Mutter und wurde auch gleich freudig umarmt. "Heute ist ein großer Tag für dich Lineth, mach uns alle stolz!" ließ sie das Mädchen wissen und zerstörte damit all die Hoffnung auf ein rasches Ende des Schauspiels, die das kleine Mädchen insich trug. Mireen Hauser war eine hochgewachsene, bildschöne Frau, in deren Gesicht sich jedoch zumeist Ablehnung und Trauer zeigte. Shello vermied den Kontakt mit ihr so gut es ging, denn ihr Wesen war nicht weniger Abweisend als ihre Mimik. Ihre Schwester hingegen konnte dies nicht, Mireen war ihre Mutter und sie hatte stehts den Glauben bei ihr Trost zu finden. Der Herr des Hauses Zaranach Hauser, der Vater der Zwei, trat vor das Publikum und bat um ruhe. "Im Tal des Regens, wird heute ein weiteres Mitglied unserer Familie zum ersten mal das Licht suchen! Meine Tochter, Lineth Hauser, wird nun durch jenes wandern und hoffentlich gereinigt zurückkehren." rief der stämmige Mann wild gestikulierend in den Raum, woraufhin das Publikum zu klatschen begann. Kurz zupfte er an seinem grauen Bart, winkte dann die Hauptprotagonistin zu sich und geleitete sie zum Eingang des sogenannten Tales.
Die zwei massigen Türen öffneten sich und Lineth blieb nichts anderes übrig als trotz ihrer Angst, in das Dunkel zu gehen. Der Eingang verschloß sich und sie hörte, wie dieser mit einem Schlüssel verriegelt wurde. Die ersten Tränen stiegen ihr in die Augen als ihr bewusst wurde, das sie nun alleine war. Furchtsam tastete sie sich voran. Die steinigen Wände waren feucht und kalt und sie begann zu zittern, denn auch ihre nackten Füße waren bereits nass und umhüllt von Matsch. Es war nichts weiter zu hören, als das fallen einiger Tropfen und ihr vorsichtiges Tapsen. Ein paar Meter weiter meinte sie ein Licht zu sehen und auch das Tropfen wurde mit jedem ihrer Schritte lauter und zahlreicher. Tatsächlich erhellte sich langsam die Höhle und sie gelangte in einen größeren Raum. Von der Decke schien es wie in Strömen zu regnen und am Ende stand, auf einem goldenen Podest an der Wand, eine altmodisch wirkende Handlampe. Etwas geblendet vom Licht, hielt sie sich schützend die Hände vor ihr Gesicht und betrachtete daraufhin den Weiher, den das Wasser über die Zeit gebildet hatte. Sie atmete tief ein, versuchte Ruhe zu finden und stieg zögerlich mit den Füßen in besagtes Gewässer. Als sie ungefähr bis zu ihrer Hüfte, in dem überraschend warmen, Nass war, fiel ihr Blick erneut auf die Lampe am Ende der Höhle. Diesesmal musterte sie diese genau und etwas schien sie daran nicht mehr loszulassen.
Wie gebannt starrte sie auf das Licht und bemerkte dabei nicht, das sie immer Tiefer versank. Sie schien die Kontrolle über ihre Bewegungen verloren zu haben, so gefesselt war sie von dem Strahlen. Kurz bevor sie den tiefsten Punkt des Weihers erreichte, verlor sie plötzlich den Halt und fiel hinein. Langsam fand sie zu sich selbst zurück und erkannte die Gefahr. Sie riss die Augen auf, griff panisch nach dem Rand des Beckens und zog sich hustend hinaus. Geschwächt lag sie auf dem Boden und hustete sich sämtliches, verschlucktes Wasser aus dem Körper. Ihre Füße waren blutig und verkratzt, sie schmerzten und verhinderten beinahe, das sie überhaupt aufstehen konnte. Als sie dies jedoch geschafft hatte, rannte sie so schnell es ging in Richtung der massiven Türen und begann dagegen zu schlagen. "Lasst mich raus! Bitte! Ich habe Angst, mir ist kalt und ich bin verletzt! Bitte Mutter! Bitte Vater, lasst mich raus!" schrie sie so laut es ihr möglich war, sank jedoch dann schluchzend zusammen, als niemand reagierte. Sie weinte und flehte, viele Minuten doch es schien vergebens also kauerte sie sich nahe des Eingangs in eine Ecke und schloß ihre roten, verheulten Augen.
Sie erwachte. Vor den Toren regte sich was. Es ist laut geworden. Sie hörte die Schreie ihrer Schwester, das Zerbrechen von Vasen und jeder schien durcheinander zu reden. Plötzlich öffneten sich die Türen und ihr Vater trat mit grimmigem Blick in das Tal. Als er Lineth erblickt stampfte er zu ihr, griff sie ohne Rücksicht an ihrem Arm und riss sie hoch. "Verräterin! Du hast versagt und uns alle entehrt!" brüllte er und zog sie hinter sich her. Zwischen den erboßt und enttäuscht drein schauenden Personen, lagen überall in der Halle Scherben von zerstörter Einrichtung, die ganze kitschige Dekoration war abgerissen und teilweise verschwunden. Lineth bettelte und weinte erneut, sie wusste was ihr bevor stand. Sie versucht sich, von dem heftigen Griff ihres Vaters zu befreien, doch bekam dafür nur einen Schlag mit der flachen Hand in ihr Gesicht. Am Eingang des Kerkers angekommen, öffnete der Vater diesen, warf sie hinein und verschwand ohne auch nur ein Wort zu sagen. Lineth lag winselnd auf dem Boden ihres Gefängnisses. Was war geschehen? Was hatte sie falsch gemacht? Sie fand keine Anwort auf diese Fragen und so brach sie jammernd zusammen. Im Kerker des Hauses war nichts. Es war dreckig, dunkel, leer und ruhig. Nur eines war zu hören: Das fallen des Regens, denn das Tal befand sich direkt neben ihr..