Stehen gelassen

„Weißt du eigentlich“, sagte Narcis, als er sich über den Tisch und seiner Cousine entgegenlehnte und in ihr arrogantes Gesicht sah, „dass die Leute auf den Straßen erzählen, du hättest dem Angreifer ins Gesicht gestochen? Mit einem Messer?“ Er schmunzelte, aber seine Augen machten nicht mit. Seine Augen waren fern davon. „Die machen dich zu Adrian.“
„Ja, ich weiß.“ Helena winkte ab und stand auf. „Sollen sie. Besser, als wenn sie die Wahrheit kennen.“
„Die Wahrheit ist doch meistens ein bisschen lächerlich.“
Narcis legte die Hände rechts und links an die Tischkante. Er stieß sich drei Schritt weit zurück. Als er den Raum schon halb durchquert hatte, wandte er sich plötzlich nochmal um. „Kommst du klar?“
„Nein.“ Helena schmunzelte nicht. Aber ihre Augen schon. „Die lächerliche Wahrheit ist: nein. Nicht wirklich. Gar nicht. Aber es geht schon.“
„Du weißt, dass Levi dir Hilfe angeboten hat?“ So widerwillig wie selbstverständlich kehrte Narcis nochmal an den Tisch zurück.
„Natürlich weiß ich das. Ich hab es dir erzählt.“
Helena wurde gern unwirsch, wenn sie traurig war oder sich nicht wohl fühlte. Das hatte er längst durchschaut. Zur Zeit musste er es ihr wahrscheinlich nachsehen.
„Aber?“ Anstatt sie noch einmal mit halbgaren Scherzen zu konfrontieren, für die sie sich nicht interessierte, setzte er sich zu ihr an die Tischkante.
„Aber das löst keine Probleme. Ich bin schuld. Ich bin hier schuld und ich bin schuld, wenn ich woandershin gehe.“
Narcis wollte etwas sagen, doch Helenas Hand schoss in die Höhe.
„Sag es nicht. Ich weiß. Ich bin nicht schuld. Aber ich bin schuld.“
„Das macht Sinn.“
„Tut es wirklich, oder?“
„Es klingt lächerlich. Also könnte es wahr sein.“
Narcis merkte, wie Helena ihn musterte. Es war die unangenehme Art. Jene Art, jemanden nach Fehlern zu durchsuchen oder ihm zumindest das Gefühl zu geben. Es überraschte ihn, als sie aufstand und ihm einen Kuss in sein blondes Haar drückte.
„Danke, dass du für mich zur Halle gegangen bist. Ich hab ziemlich versagt an diesem Abend. Aber ich habs nicht ertragen.“
„Hast du mitbekommen, dass einer der Patrone vergiftet wurde?“ Narcis blieb auf der Tischkante sitzen. Er sah ihr nach, als sie eine Flasche von hinten aus einem Regal holte.
„Gerüchteweise.“ Sie zögerte. „Danke“, sagte sie dann noch einmal. „Ich weiß, was du von der ganzen Sache hältst. Feine Gesellschaften und gestelltes Verhalten.“
„Mach dir um mich keine Gedanken, Helena…wie sieht es mit Dato aus? Malicia? Vito und Vincenzo wirken gefestigt. Bei den anderen mach ich mir ein paar Gedanken.“
„Ich mache mir mehr Gedanken um Nicolae.“
„Tulio war keiner von Nicolaes Leuten, oder?“
„Wechseln wir das Thema!“, beschloss Helena aus dem Nichts. Sie goss ihm etwas aus einer wirklich uralt aussehenden Flasche ein und setzte sich neben ihm auf den Tischrand. „Hier. Der ist von Victor. Sag ihm nicht, dass ich dir was davon gegeben hab. Es ist seiner.“
„Warum gibst du ihn mir dann?“
„Wer sind diese ganzen Mädchen? Die dich im Pfandhaus besuchen oder hierher kommen und bei Ligia nach dir fragen?“
Narcis trank einen Schluck. Seine Freude über das exklusive Recht, Victors Geheimvorräte zu verringern, erfuhr einen jähen Dämpfer.
„Was ist das?!“
„Whiskey…“
„Das ist nie im Leben Whiskey!“
Wahrscheinlich war es auf irgendeine perverse Art tatsächlich Whiskey. Nur roch und schmeckte es ziemlich scharf.
„Lenk nicht ab, Narcis…“
Obwohl Helena gerade die Richtige war, so einen Vorwurf zu machen, lenkte er ihr zuliebe, die sie ihm vorkam wie ein alleingelassenes Kind im Posten eines alten Mannes, dem sie gerecht werden musste, ein. Wahrscheinlich tat er ihr Unrecht.
„Mädchen eben“, erwiderte er unbestimmt. Genauso unbestimmt lächelte er. Seine Augen suchten ihre. „Wieso interessiert dich das immer so? Bist du eifersüchtig?“
„Jetzt bist du aber lächerlich!“
„Also ist es wahr?“ Narcis wusste, dass Spott ihm gut stand, weil er genug Charme besaß, ihm die richtige Form zu geben.
„Nein! Natürlich nicht. Wer will denn dich? Ich will von Männern sowieso gar nichts mehr wissen! Allein bin ich besser.“
„Na dann!“ Narcis nahm das als gelegenen Anreiz. Er stand auf und ging direkt aus dem Wohnzimmer. Kaum war er draußen, kam er noch mal rein, stellte unter einem langen Blick das Glas mit Victors Todeswhiskey auf den Tisch und machte sich wieder auf den Weg.
„Narcis!“, rief sie. „Narcis?“
Es kam keine Antwort.

Kommentare 9

  • Victors Todeswhiskey, uaarks. Eine Pulle seines Rasierwassers, oder wie?

    • Das ist das "allergleiche"

    • Das Wort „Victors Todeswhiskey“ klingt irgendwie nach einem fiktiven, berühmten Dichter oder Schriftsteller.


      Und wenn Narcis und Helena zum Dialog aufeinander treffen hat das sowas zwischenweltliches/traumartiges/surreales , was ich besser benennen könnte wenn ich gebildeter wäre. Schwer zu beschreiben. Ich höre jetzt lieber auf... xD

  • Wer sind diese ganzen Mädchen? <--Eine gute Frage! Eine SEHR gute Frage!

    • Naja, eins davon ist Alexander. Das ist sonnenklar.

    • Also bitte! Den kann Helena definitiv nicht für ein Mädchen gehalten haben, Mädchen küssen ihr nicht die Hand. Nämlich.

    • :P
      "Frauen hassen mich. Sie sind alle eifersüchtig."

    • Womit wir wieder beim Thema wären.
      Helena sollte sich eine Frau suchen!

    • Ich glaube Frauen würden auf manche Dinge etwas heftiger reagieren. Das wäre gefährlich.