Mutter, oh Mutter

„Helena, du kannst doch keine leere Pralinenschachtel verschenken!“
„Das mach ich auch nicht. Ich schreibe doch einen Zettel. Den lege ich rein.“
„Na dann.“ Ligia Iorga, Helenas Mutter, färbte sich ihr Haar noch immer rot. Sie redete nicht mehr ganz so oft von Kormir wie früher, dafür noch genauso ausdauernd vom Heiraten. „Schreib aber wenigstens, dass ich Kwas für Levi habe. Aber ich will es ihm persönlich geben.“
„Das hast du schon hundert Mal gesagt, Mama. Ich hab es aufgeschrieben.“
„Und du willst dem armen Leva wirklich die leere Schachtel geben?“
„Ja. Ich kann das. Levi mag sowieso keine Schokolade.“
„Darin seid ihr euch ähnlich.“
„Das ist vielleicht unsere einzige Gemeinsamkeit.“ Helena raffte alles zusammen. Dann schickte sie den Hausdiener los, damit er den Boten zu ihrem Cousin nach Salma schickte. Sie zögerte, zu ihrer Mutter an den Tisch zurückzukehren. Selbst die harmlosesten Unterhaltungen hatten bei ihr den Beigeschmack von Verfänglichkeit. Sagte Helena, es ginge ihr gut, so ließ sie sich gehen. Sagte sie, es ginge ihr schlecht, so jammerte sie herum. Sagte sie gar nichts, war sie maulfaul. Sagte sie ein Wort zu viel, war sie nicht erwachsen geworden und immer noch geschwätzig wie ein Mädchen.
„Helena?“ Aber ihre Mutter war schon aufgestanden und in die Küche gekommen, wo sie ihr Kind am Tisch sitzend und sich das Haar flechtend und wieder öffnend vorfand, derweil sie wie in Trance zu Boden starrte. „Aber was machst du denn jetzt? Und was sind das eigentlich für Arbeiten im Keller? Ich schrecke ständig hoch wegen irgendeinem Lärm. Kind. Warum glotzt du denn so?“
Helena blinzelte widerwillig. Ihr Haar war bis zur Taille gewachsen. Es hätte ihr, wäre Ligia Iorga nicht hereingeplatzt, noch lange Beschäftigung geboten.
„Mama! Warum kommst du immer und nervst mich mit deinem Gefrage. Siehst du nicht, dass ich über große Dinge nachdenke?“
„Nein, tut mir leid, Lenochka, das habe ich nicht gesehen. Ich habe gedacht, du stierst nur ein bisschen blöd vor dich hin.“
„Das ist das Problem bei euch Verwandten. Ihr selbst denkt immer nur ganz klein.“
„Na hör mal! Bei uns Verwandten! Hockt da auf dem Stuhl mit aufgerissenem Blick, verknotet ihr Haar und redet dann wie ein Minister...!“
Ligia setzte Tee auf. Sie ließ ihn oft zu lange ziehen, oder nicht lange genug. Helena hasste es, wenn ihre Mutter Tee kochte. Aber diesmal sagte sie nichts dagegen. Sie trank sogar, als die gutmütige, raue Hand ihr eine Tasse zuschob.
„Deine Brüder, Leon und Ilie, sie kommen gut zurecht. Ich glaube aber, wenn sie dir ein bisschen Arbeit in der Stadt abnehmen würden, könntest du...“
„...Mama!...“
„...längst verheiratet sein, mit einem guten...“
„Mama bitte!“
„...wie hieß denn dieser nette blonde Mann? Er wäre eine gute Partie. Und er ist auch sehr gutaussehend. Ich habe ihn neulich mit dem Hund laufen sehen. Ich hab nicht gegrüßt, Lenochka. Ach! Der kennt mich doch gar nicht. Schau mich nicht so an, was soll sich denn der Jungspund an eine wie mich erinnern.“
„Ich schau dich nicht an, weil du nicht gegrüßt hast, Mama.“
„Ach, Kind!“ Ligia lachte ein dörres, resignatives Lachen. „Und Victor? Wie geht es ihm? Macht er immer noch so Späße? Ein Freudenhaus. Er wird noch zum alten Gleb.“
„Er ist gar nicht fett genug, um zum alten Gleb zu werden.“
„Rede nicht so über deinen Großonkel, sonst setzt es!“
Helena wusste, dass diese Drohungen leer waren. Ligia hatte sie als Kind öfter mit dem Gürtel zur Raison gebracht. Aber sie hatte es vorher nie angekündigt.
„Und hast du Narcis und Banel schon getroffen? Narcis lebt hier. Banel treibt sich herum.“
„Aber sie werden doch nicht wieder für Eugen-Paul anfangen, oder? Lenochka, du hast mir zu viel Zucker in den Tee.“
Helena musterte ihre Mutter unbestimmt. Die Zuckerdose stand auf Ligias Seite. Helena hatte sie nicht einmal angerührt.
„Darüber sprichst du besser mit ihnen. Am besten aber überhaupt nicht.“
„Am besten überhaupt nicht“, murmelte die ältliche Frau. Dann hob sie ihren Kopf und sah sich um. Zuerst glaubte Helena, sie halte Ausschau nach Vito.
„Wo sind denn diese netten Bettler, die hier gewohnt haben?“
„Das sind keine Bettler, sie arbeiten für mich.“
„Also sie haben aber sehr wie Bettler ausgesehen. Und ich habe gesehen, dass sie auch gern bei der Taverne herumlungern wie Bettler. Ach Helena, es ist schön, wenn du Freunde hast, aber warum umgibst du dich nicht mit Menschen, die Ambitionen haben, wie du.“
„Tin und Leyla haben Ambitionen. Nur andere.“
„Rum trinken verstehe ich nicht als Ambition.“
„Ich schon!“, rief eine dunkle Stimme aus dem Flur und Vito, der Hausdiener, durchquerte die Diele auf dem Weg hinaus. Er war dreckig als wäre er durch ein Schuttfeld gerobbt.
„Das ist in Löwenstein die Kultur“, entschuldigte Ligia den Hausdiener über ihre Teetasse hinweg. „Und diese Familie Libanez ist sowieso ein Haufen Eigenbrötler. Lebt diese Malicia noch hier?“
„Im Gesindehaus“, erwiderte Helena geistesabwesend mit Blick zur Tür.
„Ach!“ Ligias Augen weiteten sich. Das nackte Unverständnis sprang heraus. „Wie kannst du eigentlich jedes Zimmer mit einem Portrait von dir dekorieren, Lenochka! Die Angestellten lachen sich doch über dich ins Fäustchen.“
„Das war ich nicht! Denkst du, ich bin blöd?“
„Wer war es denn? Kam der Wirt aus der Wunderlampe vorbei und hat es an die Wand gehängt?“
„Ich glaube, der verlässt nie den Schankraum.“
„Jedenfalls macht sich das nicht gut, Kind. Einen Größenwahn wie zehn Männer!“
„Das war Ruh. Sie arbeitet für mich. Sie hat die Bilder gemalt und aufgehängt.“
„Ja aber warum denn?“
„Das ist eine gute Frage. Frag doch sie.“
„Aber jetzt gehen wir erst spazieren. Es kann doch nicht sein, dass diese Stadt keine adretten Ehemänner hat. Ich habe damals deinen Vater...“
„Oh, Mutter...“

Kommentare 9

  • Mir schwant, als habe die gute Tante Ligia niemals von Trajans Hochzeitsidee erfahren :3


    Ein sehr schöner Dialog zum teilweise latenten, teilweise sehr manifest offenbarten Generationskonflikt!

    • Welche Idee nun gleich?


      Danke <3

    • Die Idee, Ligia und Eugen-Paul miteinander zu verheiraten, weil die Prämissen dafür so günstig stehen. Witwer, vereinsamt und scheinbar sehr am Thema Heirat interessiert, wenn auch aus einer anderen Motivation heraus :)

    • Aaaaaaaaah! =D Ich erinnere mich

  • Was soll ich sagen, liest sich wie der Anfang von einem schönen Buch. :>

  • Hahaha. Ahahahaha. Oh well... .

  • Ahje... Armes Lenchen :D

  • Oh, Himmel. "Lenochka, du hast mir zu viel Zucker in den Tee." sagt mehr über dieses Verhältnis, als ich wissen wollte. :D
    Macht den Zettel nachvollziehbar.