Eine Winternachtsmäre - Das Kabinett

Männerarme halten die junge Frau, während sich Flocken auf ihren warmen Mantel legen und dort zu durchsichtigen Gespinsten aus tauendem Eiskristall auf krauser Wolle werden. Andere haben weniger Glück und fallen tiefer, vorbei an des Mannes Stiefeln in das Rinnsal aus flüssigem, totem Schnee. Die Winternacht verliert die Schwärze in Schlieren zwischen morgengrauem Himmel über den Zinnen und Giebeln der großen Menschenstadt. Der Laternenschein lädt alle Lichter lang in eine kleine, kreisrund erleuchtete Welt in warmen Farben. In einer erzählt ein leerer Becher auf einem Sims neben erfrorenen Stiefmütterchen vom vergangenem Wintertagsmarkt. In der nächsten späht man durch Rauchglas in das Innere einer Taverne auf Schatten letzter Gäste zu klirrendem Glasgezwitscher. Die Stiefelschläge des Schattens, der durch diese Welten wandert hallen hinter den Schläfen der fast ohnmächtigen jungen Frau wie Paukenschläge wider und lullen ihre Gedanken ein, bis der Schlaf die Wacht übermannt und den Geist mit kurzen Träumen von hochstehendem, blühendem Mohn alleine lässt.

Die schlanken Fingerglieder greifen in ein Bärenfell und neben dem hohlen Trommeln eines Windspieles hinter geschlossener Tür knistert nur das gebändigte Kaminfeuer für das schlaftrunkene Ohr. Noch dringt kaum Licht in das Haus in der Gasse. Lange kann die entführte oder gerettete Seele nicht geschlafen haben. Als sich das Mädchen, das viel zu früh zur Frau wurde auf die Knie stemmt und am dunklen Holzbein des Sekretärs einhält, blinzeln berauschte Blicke gegen das Flackern des Wärmequells am anderen Ende des langen Raumes. Dort, vor dem gemauerten Schacht durch den der Rauch abziehen kann, wirft ein hoher Thron mit geschwungenen Lehnen seinen Schatten. Eine Flasche Branntwein leuchtet golden vor den züngelnden Flammen auf einem Beistelltisch und die eben noch so lauten Stiefel ruhen leise neben den Stuhlbeinen. Ein ruhiger Leser hält die Silhouette eines Buches über dem linken Arm.


Der erste Schritt auf wackligen Beinen zwingt sie dazu sich einzuhalten. Ein Tasten an den gar nicht all zu üppig beschenkten Leib lässt den schreckhaften Gedanken fallen, man hätte sie ihrer Habe beraubt. Kein Knopf und keine Schließe geöffnet oder doch nur wieder gut umsorgt? Die junge Frau kämpft gegen den Willen an sich abzuwenden und einen Ausweg zu suchen. Nach allem, was man erlebt hat und mitmachen musste, ist die Neugier samt der Überzeugung kein armes, wehrloses Moaküken zu sein stärker, als der Drang zur Flucht. Sowieso würden Beine wie Butter nicht weit kommen, wenn der Fremde sie aufhalten will. Das Buch klappt zu und wird lautlos neben dem Branntwein abgelegt, den der hohe Schatten mit silbernem Manschettenknopf darauf hin aus dem Blickfeld des unfreiwilligen Gastes hebt.


„Das Rasseln ist es nicht, wenn man sie schüttelt,“ spricht die Männerstimme ruhig und besonnen. „Dann ist es die Flucht vor dem eigenen Versagen. Ohne Tor und ohne Tür. Vorwärts. Abwärts. Ich habe es versucht, als ich in eurem Alter war.“ Die Entführte weiß nicht zu antworten. Neben ihr baumelt ein Spiegelglasmobile über einem kleingezüchteten Ahorn, wie eine stürmische Wolkendecke im Abendrot des reflektierten Kamins. Auf der anderen Seite stehen aneinandergereiht Bilder wie Bücher im Regal, angelehnt an der Wand. So verrät nur das Erste das Motiv. Eine zarte Gestalt, wie Dwayna sie schuf, die Haut so bleich wie Knochenstaub, umarmt von vielen schattenhaften Händen, die intimste Stellen verbergen und Angst in die Miene der Protagonistin des dramatischen Aktes treiben. Das Branntweinglas berührt den Beistelltisch wieder und verliert den Halt von schätzender Hand. Kleine Wellen schlagen von Innen gegen das Gefäß, bis die Wogen in Windstille glatt verlaufen. Die tiefe Decke des alten ausgebauten Gemäuers, vermutlich am Rande zur hohen Stadtmauer beugt sich wie eine riesenhafte Schwinge schützend und gestützt von vielen Querbalken über das reiche Sammelsurium an skurrilem Tand und exquisiten Einzelstücken, die der Dunkelheit entkommen. Die Augen einer ausgestopften Wachtel starren dem schwerbeinigen Geschöpf vom Bärenfell ausdruckslos entgegen. Unter dem Tier ein Nest mit zerbrochenen Schalen und eine präparierte Schlange, die darin gewütet haben muss, während die Wachtel brütete, wenn man dem Künstler glaubt, der das abstrakte Standbild geshaffen hat. Noch drei Schritte voran, dann kann sie die Lehne sicher greifen.


„Man lässt sich fallen, weil man weiß, dass man nie hart aufschlägt. Das ist eine Philosophie, die dann zerbricht, wenn die Knochen schmerzen,“ erzählt der Gastgeber in väterlicher Manier, ohne an der breiten Lehne vorbei nach hinten zu sehen. Alt klingt er nicht ein mal, auch wenn die Frau im Rücken Schwierigkeiten damit hat, die für das Ohr noch unklare Stimme zuzuordnen. Die vergangene Ohnmacht zerrt noch an den Sinnen. Noch ein Schritt, dann ein Blick über die rechte Schulter in einen Spiegel, der ein falsches Abbild des Raumes ohne ihre eigene Gestalt vorgaukelt. Der goldene Rahmen wird von springenden Schatten wilder Fratzen getragen. „Wie wollt ihr euch nun retten,...“ setzt der Mann zur Frage an, ehe ein einziges weiteres Wort die benommene Seele vor dem letzten Schritt wie eine unsichtbare Schlinge fängt. „...Fiona?“ Der Apfel im Augenwinkel fällt vom Tisch, neben eine steinerne Stufe an die Wurzel eines Baumes zwischen zwei Häusern. Dann liegt er wieder wo er war. Der Rotschopf blinzelt eine Träne der Verzweiflung fort, die über Sommersprossen wandert, versucht sich zu konzentrieren und hält sich den einseitig kurz geschorenen Schädel. Die Stimme erwacht kläglich zitternd um ihre dunkelste Befürchtung auszusprechen. „Digsby?“


Fortsetzung folgt...

Kommentare 8

  • Hum... Sehr rätselhaft. Und unheilverkündend. Und wirklich schön geschrieben. :)
    Wo steckt nur Sonnenberg?!?

  • Die Beschreibungen lesen sich schön schummrig winterlich - die sind ja auch der Großteil der Geschichte. (Nur Dialog wäre ja auch recht kurz :p)


    Und dieser Digsby liest glaub ich zu viel und ist zu wenig draußen.

    • Der hat früher Guildwars gespielt und weiß sonst nichts mit sich anzufangen... Guildwarsception!


      Und danke. ;)

  • Über zehn Jahre spielen wir nun miteinander. Zehn Jahre in denen ich niemals gelangweilt von dir war. Zehn Jahre in denen du mich immer wieder überrascht hast. Zehn Jahre in denen ich nie erwarten konnte, wie ein Charakter von dir sich entwickelt und zehn Jahre in denen du deine Art zu schreiben immer wieder verbessert hast.


    Mit dieser Geschichte, die mich unvorbereitet traf und in der nicht einmal einer meiner Charakter vorkommt, hast du mich wieder gefangen. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. <3

  • Extrem stimmungsvoll. Dichte Atmosphäre, anspruchsvolle Formulierungen, bildhafte Beschreibungen. Ich habe mich beim Lesen dabei ertappt, wie ich flacher geatmet habe. Ich mochte die Bezüge zu aktuellen Ereignissen, die du verwendet hast ("In einer erzählt ein leerer Becher auf einem Sims neben erfrorenen Stiefmütterchen vom vergangenem Wintertagsmarkt.").
    Toller Text, ich bin sehr gespannt darauf, wie es weitergeht.