Ebonfalke, 1326 n.E.
Bunte Planwagen gesellten sich dicht zu den reich bestückten Marktständen der Kestrel-Straße. Es war ein Sonntag, noch dazu nicht irgendein Sonntag; heute veranstaltete die Stadt als Zeichen der wohlgemeinten Zerstreuung einen festlichen Jahrmarkt. Wahrsager, Gaukler und Barden mengten sich in einem dichten Menschengetümmel zwischen Feilbieter exotischer und heimischer Güter, eine Holzbühne ward für einen reisenden Zirkus reserviert und durch Tänzer und Musiker besetzt und lange Girlanden mit Wimpeln der Farben der Königreiche Ascalon und Kryta hingen zwischen den eingrenzenden Hausfassaden.
Über das stark frequentierte Straßenpflaster striff, in der Menge genauso unaufgeregt wie unauffällig ein Volkov-Vierergespann. Vater Jaromir Isaak, ein Mann, dessen unsagbare Volksnähe sich darin ausdrückte, dass er selbst zu einem geselligen Familienausflug in der Öffentlichkeit einen blutsteinroten Frack samt Gehstock trug und Mutter Mariya, die sich für diesen Tag in einem streng anliegenden Promenadenkleid zeigte wurden begleitet durch zwei von drei Sprösslinge der Familie. Asker, der jüngere der beiden, dessen helle Haare und weiche Gesichtszüge von der Mutter vererbt worden sein mussten; und Zaeed, der ältere, der den blassen Teint und die grünen Augen seines Vaters spiegelte.
Zwischen den Fingern Askers fand eine erste Ausbeute ihren Platz. Ein sauber geschnitztes Pferd, dessen Reiter man zusätzlich hätte erwerben können. Aber es kostete den jungen Burschen schon all sein Verhandlungsgeschick, die geizige Mutter gegen den gleichmütigen Vater auszuspielen, der letztlich den Kompromis bewilligte, überhaupt einen Teil des Spielzeugs zu erwerben. Dafür wurde es nunmehr von Kinderfingern gehütet wie ein schmuckloser Schatz. "Das ist der Anfang meines eigenen Reiterregiments, Zaeed. Du wirst schon sehen.", verhieß sein Bruder ihm, doch Zaeed hatte dafür nur ein Schulterzucken übrig. "Sicher. Ohne Reiter. Erzähl Vater das und er lacht dich aus."
Der ältere der beiden Brüder hingegen erbeutete anderes - und das nicht einmal in seinem eigenen Namen. Ein neues Kettenhalsband für den Wachhund, zwei Rollen roten Leinenstoffs aus dem man ihm bald neue Kleidung nähen würde und ganz nebenbei bat sein Vater ihn schon vor fünf besuchten Ständen darum, ein neu erworbenes Zigarrenetui zu tragen. Bereits beim nächsten Stand allerdings vertraute er das Etui Asker an, äugte fort und ergriff seine Chance.
Er wusste es war falsch, doch über den Verlauf des Tages und während sie die vielen Stände besuchten, die Zaeed für gähnend langweilig hielt, zog es ihn mehr zu den Attraktionen des Zirkus hin. Eine Kartenlegerin. Der Dunst feiner Rauchfilamente entzündeter Räucherstäbe und das Geklimper des reichen Goldschmuckes lockten ihn an. Der Moment war günstig. Vater, Mutter und Bruder standen gerade vor einem Töpfer, Mariya wägte ab, welches Vasenmuster ihr am besten gefiele, Jaromir feilschte vorbeugend um den Preis - Zaeed ging stiften. Er hatte den Moment einer nahenden Großgruppe genutzt, tauchte um sie herum und ging in der Deckung des Menschenstroms zielgerichtet auf den mystischen Stand der Wahrsagerin zu.
"Ein junges Gesicht, das eine alte Frau um ihren Rat bittet? Hmhm, ich sehe ein bedeutsames Schicksal in deinen Augen, Bursche... 20 Kupfer, der halbe Preis für dich." - "Ja, bitte. Und wenn ich um noch etwas bitten darf: Beeilt Euch ein wenig. Ich habe das Gefühl, mein Schicksal holt mich bald ein." Zwar ließ er die gealterte Halbcanthanerin einen Moment stutzig zurück, doch sie schien auf ihre Art zu verstehen. Nachdem der Preis aus einer signifikant leichten Geldkatze bezahlt wurde, begann die Kartenlegerin ihr Deck zu mischen und dabei Formeln zu sprechen, von denen Zaeed glaubte, dass sie der alten canthanischen Sprache entstammen mussten. Sie rief die Götter an, er war sich ziemlich sicher.
Die nervösen Blicke, die nach seinem Vater suchten, entgingen der Kartenlegerin nicht. Rasch fand eine Karte nach der anderen ihren Platz auf dem Holztresen, der sie trennte. "Naitahlen, der Pirat ... Ran musu, der blaue Mond und ... Jaje Niya, der wertvolle Schatz. Oh, junger Spross, du wirst eines Tages eine schwere Bürde stehlen, im Glauben, sie beherrschen und meistern zu können. Doch .. ah, die vierte Karte, Tahkayun ... Nein, diese Bürde .. oh ihr guten Götter." Zaeeds Augen weiteten sich, als er auf die vierte Karte sah, die eine schwarze Rauchwolke neben einem kompliziert wirkenden, canthanischen Schriftzeichen abbildete. "Sie wird dich an den Rand deiner Kräfte bringen, ja, dich beinahe das Leben kosten! Doch da, der blaue Mond, die mystische Schönheit einer klaren und ruhigen Nacht ... am Ende wirst du gerettet, Bursche. Doch gib Acht. Der Pr-"
Zaeed hatte nicht geahnt, dass die Götter über diese Prophezeiung so erzürnt waren um jähzornig zu intervenieren. Vielleicht verfolgte der blutrünstigste von ihnen einen Plan, der dem Sterblichen nie bis zum Ende enthüllt werden sollte. Im Rücken der Wahrsagerin, verborgen in der Nähe eines Laternenpfahls und im Schatten eines gold belaubten Baumes ging etwas Kraftvolles in die Luft. Er hatte keine Zeit mehr zu begreifen. Keinen Moment, um zu verstehen. Als die Druckwelle ihn erfasste und seinen Leib durch die Luft schleuderte, raubte es ihm das Bewusstsein. Ein Aufprall, ein aggressives Fiepen, entfernte Schreie zu Bewusstsein gekommener Wolken.
Chaos. Gefallene Engel, die herbeieilten, aber Schwierigkeiten hatten, panische Massen davon abzuhalten einander niederzutrampeln. Vorhutsoldaten, welche ähnliches versuchten, zur gleichen Zeit aber in der Menge nach Aggressoren suchten. Jaromir kämpfte gegen den Strom an und brüllte mit vollem Lungenvolumen den Namen seines vermissten Sohnes. Er war nicht bei ihm. Zuletzt fiel ihm das glänzende Metall des Halsbands auf. Und noch bevor sich die Seraphen, die Vorhutsoldaten und der panische und entsetze Besitzer des nahen Haus, aus dem es die Trümmer sprengte dem Ort nähern konnten, stürmte Jaromir zu den Trümmerteilen, in deren Nähe zwei rote Stoffrollen lagen. Bis zuletzt hatte der Arm, der unter einem abgebrochenen Holzbalken hervorlugte daran festgehalten. Jaromir, mit Tränen in den Augen, rief trotz seines malträtierten Rückens alle alte Kraft hervor, die er noch besaß, um den Balken anzuheben und seinen Sohn aus den Trümmern zu ziehen. Er war bewusstlos, in dem Moment vielleicht tot, der Vater wusste es nicht. Alles, was er wusste, war, dass er ihn rasch versorgen musste. Kein Ersthelfer hatte es vor Jaromir zu Zaeed geschafft.
~*~
".. jetzt hast du aber ausgeschmückt."
"Gut möglich. Hier und da vielleicht~."
"Was ich mich aber dennoch frage ... wie hat sein Vater es noch vor allen anderen dorthin geschafft?"
"Hmm, ich schätze ... Er hat von allen am meisten zu verlieren gehabt."
"Aye, darauf trinke ich."
"Auf die Vaterliebe."
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