Brief an den Baron

1327 AE


Mit Einbruch der Dunkelheit kam der Regen. Wo tagsüber brütende Hitze über der Stadt gelegen hatte, unbeweglich wie eine schwere Wolldecke, kam mit Verschwinden der Sonne hinter Götterfels‘ mächtigen Außenmauern ein lauer Wind auf, der verheißungsvoll durch die durch mit Anwohnern, Besuchern, Händlern und Handwerkern belebten Gassen säuselte. Ein paar Windstöße mehr und die residuale Wärme des Tages verflüchtigte sich, ehe ein kollektives Frösteln durch die sommerlich gekleidete Population der Menschenhauptstadt ging, gefolgt von Überraschung über den ersten Tropfen auf der frühabendlichen Balkonlektüre und Panik, als auf ihn immer mehr folgten. Wer hätte diese Entwicklung bloß kommen sehen können? Regen in der Jahreszeit der Stecklinge, des Wassers? Wie am Tage zuvor schon? Und spätestens als das Echo eines entfernten Donnergrollens zwischen den Wällen umhersprang kam wie jedes Mal hektische Bewegung in den Pulk auf den Promenaden. Handwerker, die von ihren waghalsigen Gerüsten den Weg zu Boden suchten. Straßenhändler, die ihre Waren und Stände unter Hochdruck einpackten. Und um sie herum, ein Strom Menschen, der Unterschlupf vor den drohenden Wassermassen suchte.


Trotz der an Sicherheit grenzenden Regelmäßigkeit des allnächtlichen Monsunregens entfalteten sich mit dem Fallen der ersten, dicken Regentropfen auf der Balthazar Hochstraße bloß eine Handvoll Schirme in der Menschenmasse. Einer dieser Schirme war von dunkelgrüner Farbe und begann, die Straße entgegen des Stroms hinab zu tanzen. Die junge Botenfrau darunter schlängelte sich durch den Pulk, den Schirm am ausgestreckten Arm über den Köpfen der Leute führend. Zwar bot er ihr so wenig Schutz vor dem prasselnden Schauer, doch fuhr sie so ein geringeres Risiko, einem der Fliehenden ein Auge auszustechen, bevor er unter den gläsernen Kuppeln der Oberstadt Schutz finden konnte. Zum erstbesten Moment brach sie aus der Masse heraus und presste sich unter einem Vordach an eine Hauswand. Shen atmete schnell und wischte sich das nasse, silberne Haar aus dem Gesicht. Nur einen Moment Luft schnappen. Ohne hinzusehen prüfte sie den Verschluss der kleinen, flachen Tasche, die sie über die Schulter trug. Jene hielt die letzte Nachricht, die sie heute ausliefern würde. Der Empfänger wohnte unter ihr, an der Außenmauer des Ossa-Viertels. Es war das erste Mal, dass sie diese Adresse aufsuchen würde, so wusste sie nicht, was sie erwartete. Genug pausiert. Shen klopfte das Wasser vom Schirm, ehe sie ihn wieder über den Kopf hob und sich ins Treiben stürzte.


Eine Viertelstunde später kehrte Shen in die letzte Gasse ein. Der Regen hatte stark zugenommen, ebenso der Wind, der an ihrem grünen Schirm zerrte und ihn zeitweise umklappen ließ. Ein jedes Mal musste die Botendame ihn mühselig wieder unter Kontrolle bringen. Immerhin waren die Straßen hier wortwörtlich leergefegt, hatten die prasselnden Wassermassen bereits den Bürgersteig geflutet. An der nordwestlichen Außenmauer des Ossa Viertels erhob sich ein mehrstöckiges Anwesen, dessen Eingang von flackernden Lampen in goldenes Licht gebadet und bei diesem Wetter äußerst einladend wirkte. Shen näherte sich der Pforte, einer großen, rot lackierten Tür, und hob die Hand, um den Türklopfer zu betätigen. Üblicherweise hätte sie zuvor doppelt und dreifach überprüft, ob sie sich am richtigen Ort zur richtigen Zeit befand, doch wagte sie es nicht, die geschriebene Nachricht aus ihrer Tasche zu ziehen. Nicht, dass der Wind versuchen würde, ihr den Umschlag zu entreißen. Nach einigen langen Momenten, in denen Shen nervös auf der Stelle trippelte, öffnete sich die Tür. Licht und Wärme überkam sie, ehe sie geblendet die Worte hervorstotterte: „Eine N-Nachricht für Baron Anselm!“ Im Türrahmen konnte sie bloß den Schatten einer Gestalt ausmachen, die sie daraufhin heranwinkte. Über das Rauschen des Regens drang die Stimme einer Frau an ihr Ohr: „Du liebe Güte! Komm herein, bevor du dir den Tod holst!“


Im nächsten Moment hatte sie die Türschwelle passiert und die Pforte das anschwellende Unwetter ausgesperrt. Ihre Sicht gewöhnte sich an die helle Umgebung und Shen erblickte eine Dame mittleren Alters vor sich, gekleidet in ein langes Haushaltskleid samt Schürze, mit hochgekrempelten Ärmeln und hochgestecktem, braunem Haar. Ihre Züge wirkten sanft, als ihre blauen Seher die begossene Botin in Augenschein nahm. „Dass man dich bei so einem Wetter da hinaus schickt ist ja geradezu unmenschlich. Alles in Ordnung bei dir, Liebes?“ Shen hatte sich derweil am Verschluss ihrer Umhängetasche zu schaffen gemacht, hielt dann aber inne und verbeugte sich tief, dass einige viele Tropfen auf die weißen Fliesen tropften. „Vielen Dank dass ihr mich eingelassen habt, Miss. Ich habe eine vertrauliche Nachricht an Baron Anselm zu überstellen. Ist er daheim?“ Shen richtete sich wieder auf und schniefte leise, hatte ihre Nase in der beinahe-Horizontale angefangen, zu laufen. Die Magd schmunzelte gutmütig ob der übertriebenen Ehrenbekundung. „Baron Anselm ist Zuhause, ja. Ich gebe ihm Bescheid, dass er dich empfängt. Folge mir.“ So wandte sie sich bereits um, hielt dann aber inne. „Und zieh deine Schuhe aus, ja?“


So schlich Shen der Magd hinterher. Die Sohlen ihrer durchnässten Strumpfhose hinterließen feuchte Flecken auf dem hellen Marmor, doch war Shen zu sehr damit beschäftigt, ihre Umgebung zu bestaunen, um sie zu bemerken. Ausgestellte Rüstungen und kostbare Gemälde huschten an ihr vorbei, ein Kronleuchter nach dem anderen zogen an der hohen Decke über sie hinfort wie ferne Sternbilder. Vor lauter Staunen wäre sie der Dame in den Rücken gefallen, als jene anhielt um eine Tür in einen abzweigenden Raum zu öffnen. „Setz dich doch. Der Baron ist informiert und gleich für dich da.“ Vor ihr eröffnete sich die große Küche des Anwesens. Die Magd deutete auf einen Hocker nahe eines großen Steinofens, dessen Tür offenstand und den Raum erhitzte. Shen nickte gewichtig und ließ sich auf dem Hocker nieder, ihre Tasche mit beiden Händen umklammert, seit sie ihren Regenschirm am Eingang zurückgelassen hatte. Hinter ihrem Rücken hörte sie die Magd auf und ab gehen. Leicht zuckte Shen da zusammen, als sie ihr ein Handtuch über die Schultern legte. „Du bist klatschnass. So können wir dich nicht in den Salon lassen.“ „Habt vielen Dank, Miss.“ Antwortete Shen demütig. Die Dame umrundete Shen und lehnte sich an den steinernen Kamin an. „Ich bin Marie. Ich halte im Anwesen des Barons alles auf Vordermann. Ich schätze, dass ich dich in Zukunft des Öfteren einlassen werde. Wie ist dein Name?“ Shen begann, das schulterlange, graue Haar zaghaft abzutupfen. „Mein Name ist Shen Argyrus. Ich arbeite für das Ministerium… Wieso glaubt ihr, dass ich öfter herkommen werde?“ Marie schnalzte unzufrieden, stieß sich vom Kamin ab und stellte sich hinter Shen, um ihr prompt das Handtuch wieder abzunehmen und sich selbst daran zu machen, ihr das triefende Haar zu trocknen. „Weil der Baron so wenig Augen auf seine Korrespondenz haben möchte, wie irgend möglich. Er legt großen Wert auf seine Privatsphäre. Du bist die Erste, und ginge es nach ihm wirst du auch die einzige Botin bleiben, die er engagieren muss.“ Marie warf sich das Handtuch über die Schulter und zückte einen Kamm aus den etlichen Taschen ihrer Schürze, den sie daraufhin durch das graue Haar gleiten ließ. „Er misstraut der magischen Briefausstellung. Man wisse nie, wer sonst noch mitliest.“ Shen ließ die ungefragte Behandlung zu und schwieg. In ihrem Kopf formte sich bereits ein Bild von Anselm. Ein steinreicher Eremit, der von einer Armee Diener umsorgt wird und niemals sein Anwesen verlässt. Es würde erklären, wieso sie in ihren zwei Jahren im Ministerium den Namen Anselm noch nie aufgeschnappt hatte.


Schließlich band Marie die graue Mähne zu einem losen Zopf zusammen. „Jetzt siehst du präsentabel aus.“ „Habt vielen Dank, Miss Marie.“ Gab die Botin kleinlaut von sich. Die Magd lehnte sich erneut vor ihr an den wärmenden Ofen und betrachtete sie mit ihren hellblauen Augen. „Ist das deine Botenuniform?“ Shen hob ihre roten Seher und zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke länger als einen Moment. Die Reaktion auf die weinrote Farbe von Shens Iriden war deutlich verhaltener als die der meisten dünnhäutigen Minister, doch nahm Shen dennoch ein überraschtes Zusammenzucken wahr. So wandte Shen ihren Blick wieder ab, um ihn über ihre Kleider gleiten zu lassen: dunkle Strumpfhosen, ein knielanger Rock, ein enges Korsett und eine schwarze Bluse mit losgelösten, separaten Ärmeln, die die ihre blassen Schultern frei ließen. Shen nickte. „Unsere Sommeruniform.“ Marie schnalzte erneut unzufrieden und schüttelte den Kopf, enthielt sich aber eines Kommentars. Keiner war vonnöten, war sich Shen der Wirkung bewusst, die ihre Aufmachung auf die schmierigsten Mitglieder des Kabinetts hatte. Die darauffolgende Stille wurde vom Läuten einer Glocke aus einem Nebenraum unterbrochen. „Der Baron wird dich nun empfangen.“ Marie marschierte bereits zur Tür und winkte Shen mit sich. Shen beeilte sich, ihr zu folgen.


Marie stieß eine große Flügeltür auf. Der Geruch von Papier und Tabak schlug ihnen entgegen. Die Wände abseits der großen Fenster waren bis zur Decke mit Bücherregalen versehen, während auf dem Boden das Fell eines großen Tieres als Teppich fungierte. Ein großer Kamin erhellte den Raum, der ansonsten nur von drei gepolsterten Sesseln um einen massiven Eichentisch eingenommen wurde. An jenen gelehnt stand ein Mann, der nicht älter als vierzig Jahre sein konnte. Er war von ordinärer Figur, das braune Haar mit grauen Strähnen war ordentlich gekämmt, der volle Bart getrimmt und die dunklen Augen auf ein Papier in der Rechten gesenkt. Auch trug er unauffällige Kleidung, dunkle Lackschuhe, eine Anzughose mit Hosenträgern über einem weißen Leinenhemd. Allein ein silbernes Armband und ein goldener Ring an der Rechten verrieten das vermeintliche Vermögen, über das der Baron verfügte. Marie hob höflich die Stimme: „Mein Herr, ihr habt Besuch. Eine Botin aus dem Ministerium.“ Die dunkelbraunen Augen hoben sich und Anselm legte das einzelne Dokument auf den ansonsten komplett leeren Sekretär. „Ah, sehr gut. Kommt herein, setzt euch. Wir haben einiges zu besprechen. Marie, bitte.“ Seine Stimme war leicht rau, beherrscht und höflich. Shen merkte, wie sie ein paar lange Momente nichts weiter getan hatte als gestarrt, so machte sie rasch einen Schritt in den Raum, als die Magd den Salon verließ und die Türen hinter sich schloss.


Anselm umrundete derweil den Tisch und ließ sich auf dem Sessel mit dem flackernden Kamin im Rücken nieder. Shen wagte noch ein paar Schritte an den zentralen Tisch heran und öffnete ihre Tasche. „Baron Anselm, euch wird eine Nachricht mit anonymem Absender überstellt. Mit der ausdrücklichen Bitte, dass die zuständige Botin sicherstellt, dass ihr sie gelesen habt.“ Inständig hoffte sie, Anselm würde die Nervosität in ihrer Stimme in seinem massiven Ohrensessel überhören. So präsentierte sie ihm den Umschlag. Er hatte die Dicke eines Daumens und war an allen Enden mit Wachs versiegelt. Anselm lehnte sich über den Tisch und nahm ihr die Nachricht ab, betrachtete sie einen langen Moment, eher er sie vor sich auf die Platte legte und sich wieder zurücklehnte, um Shen zu betrachten. Die Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, die Stirn gerunzelt, doch wirkten seine Züge sonst entspannt. „Ich bin mir sicher, Marie hat euch bereits erläutert, wie ich zu arbeiten pflege.“ Mit einem unauffälligen Deut forderte er Shen erneut dazu auf, sich zu setzen. Shen kam Anselms Anweisung nach und ließ sich in einen der Sessel nieder, wagte es jedoch nicht sich anzulehnen. Stattdessen schlug sie die Beine übereinander und saß kerzengerade, die roten Seher auf den Baron fixiert. Jener schmunzelte sachte und fuhr fort. „Das Haus Anselm lässt sich über dreihundert Jahre in der Geschichte Krytas zurückverfolgen, doch taucht unser Name bloß als Fußnote in ihren Annalen auf. Eine eingestaubte Dynastie, die alte Reichtümer hortet, es jedoch nicht wagt, den Werdegang des Reiches mitzubestimmen, für das ihre Gründer kämpften. Dieses Erbe werde ich nicht antreten.“ Der Baron erklärte geduldig und pausierte einen Augenblick, in dem Shen es kaum wagte, zu atmen. „Ich werde in das Ministerium eintreten. Zu lange wurde das krytanische Volk von egozentrischen Ministern und blinden Royalisten an der Nase herumgeführt. Es verdient eine unabhängige, unkorrumpierbare Stimme.“ So zog er eine Schublade auf und förderte einen Brieföffner zutage, mit dessen Hilfe er den versiegelten Umschlag öffnete. Der Inhalt, ein Stapel unscheinbarer Dokumente, verteilte er vor sich und senkte den Blick der dunkelbrauen Augen darauf. Ohne ihn zu heben, fuhr er fort. „Ich werde Feinde auf allen Seiten des Spektrums haben. Diskretion ist von höchstem Stellenwert. Es ist kein Zufall, dass ihr hier seid, Miss Argyrus. Ihr seid jung, potenziell idealistisch veranlagt, doch habt ihr zweifelsohne die Krankheit gesehen, die das Ministerium lahmen lässt.“ Shen merkte, wie sich die Röte in ihre Wangen schlich, war sie auf das vermeintliche Kompliment nicht vorbereitet. Der Baron sammelte die Papiere auf, formte einen sauberen Stapel und ließ sie in der Schublade verschwinden. Verschmitzt lächelte er dann. „Ich ein Angebot für euch. Es dürfte euch gefallen.“


Gut eine Viertelstunde später öffneten sich die Türen des Salons wieder und Shen tappte hinaus in den Flur. Mit schwirrendem Kopf und glühendem Gesicht hob sie den Blick gen Decke, wo ein weiterer Kronleuchter den marmorgefliesten Gang in kühles Licht tauchte. Die Flügel fielen leise hinter ihr zu. Sie hatte um Bedenkzeit gebeten und Anselm hatte sie bereitwillig gewährt, doch machte sich Shen nichts vor. Ihr gefiel die Idee sehr, anstatt für ein Dutzend alter, übergriffiger Minister das Laufmädchen zu spielen bloß einem ambitionierten Demokraten zu Diensten zu stehen. Sie sorgte sich darum, allein mündlich diktierte Nachrichten überbringen zu müssen, doch gefiel ihr der doppelte Lohn deutlich mehr. Aber so charismatisch Anselm auch sein mochte, Shen würde sie sich zu keiner überstürzten Zusage hinreißen lassen. Marie erwartete sie hinter der nächsten Biegung des Flurs, wo sie die Zeit mit dem Abstauben einer der zahllosen Rüstungen verbracht hatte. Scheinbar stand Shen eine Mischung aus Überforderung und Begeisterung ins Gesicht geschrieben, denn die Magd schmunzelte wohlwollend, wenngleich wenig überrascht. „Wurde da jemandem der Kopf verdreht? Komm, ich bringe dich zur Tür.“ Während sie das Anwesen erneut durchquerten hob Shen die Stimme. „Ihr lagt mit eurer Einschätzung richtig, Miss Marie. Ich werde wohl des Öfteren vorbeischauen.“ Marie antwortete erst, als sie an der großen, roten Tür des Anwesens wieder angekommen waren. Als Shen sich setzte, um in ihre Schuhe zu schlüpfen, lehnte sie sich zu ihr hinab. „Zwei Schläge, Pause, dann nochmal zwei. Das ist dein Signal. Wenn du in diesem Rhythmus den Türklopfer betätigst, weiß ich, dass du es bist.“ Shen nickte bestimmt und nahm ihren Regenschirm wieder zur Hand, ehe Marie ihr die Tür öffnete. Noch immer prasselte der Regen auf das Pflaster, doch schien der Wind nachgelassen zu haben. „Komm gut nach Hause, Liebes.“ Shen verbeugte sich knapp, ehe sie die Schwelle passierte und den Schirm über sich öffnete. Shen wandte sich noch einmal um, um Marie eine gute Nacht zu wünschen, doch war die rote Pforte bereits lautlos ins Schloss gefallen. Die junge Botin blinzelte, betrachtete sie im flackernden Licht der Gaslampen, ehe sie herumwirbelte und in die verregnete Nacht verschwand.


1330 AE


Mit Einbruch der Dunkelheit kam der Regen. Tagsüber hingen die Wolken tief über Götterfels, dass die höchsten Türme der Oberstadt bereits in ihnen verschwanden, doch brauchte es die Kühle der Nacht, um ihre Pforten zu öffnen. Shen war entfallen, wohin sie eigentlich des Weges war, hatte sie ihre letzte Nachricht bereits vor Stunden abgeliefert. Tief in Gedanken hatten sie ihre Füße den altbekannten Weg durch das Ossa Viertel geführt, der vor dem mehrstöckigen Anwesen endete. Sanft trippelte der Regen auf ihren Schirm, aus dessen Schatten sie die Pforte beobachtete. Jemand hatte sie in hellem Weiß gestrichten, wie die Hausfront selbst. Der gusseiserne Türklopfer war zuvor abgebaut worden. Anderthalb Monate waren vergangen, seit die Glänzende Klinge Shens Berichte über Anselm zum Anlass genommen hatte, ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Sein Vermögen war restlos liquidiert, sein Name auf einer Liste mit anderen Unterstützern und Mitgliedern des Weißen Mantels. Er geriet bereits in Vergessenheit. Erst Tage nach seiner Festnahme hatte Shen davon erfahren.


Damals hatte sie überlegt, sich für ihn einzusetzen. Sie wusste, dass er kein Feind des Reiches war, bloß ein ambitionierter Politiker mit Reformideen. Dass sich sein Ziel, dem gemeinen Volk im Ministerium eine größere Stimme zu verleihen, in Teilen mit der Propaganda des Mantels überschnitt, war mehr Zufall als alles andere. Doch ließ es ihn aussehen wie einen Sympathisanten, einen unwissentlichen Unterstützer von Krytas Erbfeind. War sie ihm ihre Unterstützung schuldig? Anselm hatte seine Untergebenen, Shen eingeschlossen, stets mit Respekt und Güte behandelt. Und sie hatte sein Vertrauen betrogen, ihn ausspioniert. Wie all die anderen, die wirklich verdient hatten, was nun auf sie zu kam. Der Bürgerkrieg mochte vorbei sein, doch hatte die Säuberung des Ministeriums gerade erst begonnen. Shen konnte sich dem nicht in den Weg stellen, ohne selbst ins Fadenkreuz zu geraten. Anselm konnte sich nicht erklären, denn wenn er die Anschuldigung, Unterstützer des Weißen Mantels zu sein, von sich wies, würde er suggerieren, dass die Krone in Zeiten des Konflikts unter dem Vorwand der Stabilität auch unschuldige Widersacher ihrer Politik ausschalten ließ. Er würde der Propaganda des Mantels über die Entmachtung des Ministeriums, der Stimme des Volkes, Legitimität zusprechen.


Ihre roten Seher huschten zu einem der dunklen Fenster, links neben der erhellten Tür. Hatte sich dort etwas bewegt? Waren schon neue Mieter eingezogen? Durch den sich verdichtenden Regen starrte Shen noch eine Weile durch das Glas, doch konnte sie im spärlichen Licht der Gaslampen nichts erkennen. Langsam wandte sie sich ab und begann, den überflutenden Bordstein entlangzugehen, das stille Anwesen hinter sich lassend. Sie bedauerte den Fall Anselm. Für Sie war er am richtigen Ort zur schrecklich falschen Zeit. Und nun, da ihre Arbeit für die Klinge abgeschlossen war, würde sie nie herausfinden, was aus dem Baron wohl geworden war.