Dieses siebzehnte Lebensjahr war schwierig. In dieser Zeit habe ich, wie vermutlich viele Gleichaltrige, viel gelitten. Ein Miasma aus Stimmungsschwankungen, fehlender Orientierung, lauter Unsicherheiten und einer Welt, von der ich glaubte sie sei übermächtig und böse gesonnen hat mich erst unsicher werden lassen, dann wütend über die eigene Unzulänglichkeit bestehen zu können.
Dass ich zu der Zeit nicht einen einzigen Freund hatte wird nicht dabei geholfen haben, einen Platz oder Rückhalt zu finden. Mein Bruder war ähnlich wie ich. Denn unser Vater hat uns gegeneinander ausgespielt. Er hat immer den Wettkampf gewollt. Wer zuerst beim Obststand war durfte sich etwas aussuchen, wer zuletzt dort war, wurde Daheim für den restlichen Abend aufs Zimmer geschickt und durfte kontemplieren, wieso er nicht gut genug war. Ich muss eigentlich gar nicht erwähnen, dass es nutzlos war. Weder hat auch nur einer von uns irgendeine hilfreiche Erkenntnis auf seinem Zimmer erlangt, noch wäre jede Erkenntnis überhaupt nützlich gewesen. Bis ich alt genug war, habe ich schon wegen meiner kürzeren Beine verloren. Welche verfluchte Erkenntnis hätte mir das bringen sollen?!
Es musste fünf Jahre dauern, bis ich begriff, was er mir eigentlich beibringen wollte. Diesen einen Moment, dessen Bedeutung ich damals in der Gedankenwelt eines Siebzehnjährigen - Sorgen, Nöte, Wünsche, alles mittelbar beschränkt, Furcht vor dem Versagen, der Wunsch nach Zugehörigkeit, das Sehnen nach einer Freundin - nicht ganz greifen konnte sollte doch so prägend sein.
- Ein seltener Schlüssel zu der Wand, die er und seine Erziehung darstellte. Eine Wand, bei der selbst nach einem Tor erst einmal verzweifelt gesucht werden musste. -
Als ehemaliger Offizier räumte mein Vater keinen Platz für Tränen ein. Weder bei ihm, noch bei uns. Und so verzog ich mich öfters in den Schatten einer Ulme, in der Nähe der großen Mauer von Ebonfalke, um für mich zu weinen. Ein abgeschiedener Platz, von dem mein Vater allerdings wusste.
An diesem Abend, an dem ich von einem niederschlagenden Training auf dem Weg nach Hause eine Pause im Schatten jener Ulme machte, kam mein Vater mir zuvor. Ich hörte ihn und seinen Gehstock, aber weder hatte es einen Zweck jetzt falsche Stärke zu demonstrieren, noch ihn überhaupt anzusehen. Ich entschloss mich, mein Schicksal, meine Bestrafung für die Schwäche, hinzunehmen. Wenigstens dabei wollte ich Stärke zeigen und meinen Stolz wahren.
Aber so sehr ich mich dazu entschied ihn nicht anzusehen, als ich das Gras neben mir rascheln hörte und aus einem unsicheren Blick sah, wie er sich neben mich setzte und sich mit an den breiten Stamm lehnte - in voller Ausgehmontur, seine Livree mit all den Posamenten, die wie Ketten rasselten, als er den Gehstock ruhig auf seinen eigenen Schoß legte und die Hände darüber hingen ließ - ich musste ihm den nassen Blick zuwenden. Seine Entspanntheit verunsicherte mich mehr, als es jeder Schlag hätte tun können.
Mein Blick wurde nicht erwidert, als er das Wort an mich richtete. Aber es war nicht unfreundlich. "Der Ausbilder hat mir erzählt, was passiert ist. Du hast die Prüfung heute nicht bestanden." Ich wusste nach wie vor nicht, welche Richtung das hier nehmen sollte. Also flüchtete ich mich in zornigen Trotz. "Wieder nicht! Alle anderen Rekruten haben sie bestanden. Wenn ich noch zwei Mal versage, werde ich ausgemustert. Das... Vater, ich will das nicht. Das.. wird auch nicht passieren." Doch er war zu aufmerksam, um zu überhören, dass ich das nur sagte um diesen Einblick in meine defätistischen Gedanken auszugleichen. Um die falsche Stärke im Affekt zu zeigen, die ich mir angeeignet hatte, damit er gnädig sein würde.
"Du liegst am Boden und schmeckst den bitteren Sand. Es ist Blut dabei, etwas Schweiß. Aber du bist nicht besiegt, Zaeed. Weder hast du aufgegeben, noch sind dir alle Möglichkeiten für den Gegenschlag genommen." Überrascht über die Worte, die ein deutlicher Bruch mit all meinen Erwartungen waren, wagte ich mich mehr zu erzählen. "Aber ich weiß nicht.. Vater, ich weiß nicht ob ich das noch kann. Ich fühle mich wie so ein Sonderling. Wie dieser eine, eingeschränkte Typ, der es einfach nicht rafft. Die anderen reißen schon Witze über mich. Ich... mhnmhh.. Ich würde sie gerne schlagen. Am liebsten würde ich auf sie losgehen und sie mit dem Schwert verprügeln, bis sie an ihrem Blut ersticken!"
Endlich sah er mich an, doch nicht verurteilend. Sonst sah ich ihn immer nur auf Familienfeiern lächeln. Ein falsches Lächeln, aber immerhin. Aber jetzt war es echt. "Und du glaubst, dann würdest du dich besser fühlen?" - "Ja! Ja, ich will sehen wie ihnen der Schädel zertrümmert wird!"
Mein Vater wusste das gewiss als jugendliche Zügellosigkeit zu deuten. Denn er wandte den Blick zurück auf die Wiese vor dem Baum und nahm das Wort erneut auf. "Nein... nein, Zaeed. Komm, ich möchte dir etwas zeigen." Zwar beschlich mich durch die allgemeine Unruhe in mir eine Skepsis, aber der Respekt saß so tief verwurzelt, dass ich es gar nicht wagte irgendetwas anderes zu tun als automatisch mit ihm aufzustehen und mittig auf die freie Wiese zu laufen. Von hier aus bekam man immerhin den Hauch einer Ahnung, wie frei es sich vor den Falkentoren anfühlen musste.
"Ich möchte, dass du in den Himmel schaust." Gemeinsam mit ihm sah ich den orange leuchtenden Himmel an. Es zogen nur wenig Wolken. "Jetzt stell dir einen Adler vor. Er fliegt majestätisch und unbehelligt durch die Lüfte. Bis zu dem Moment, an dem sich eine junge Krähe auf seinem Rücken niederlässt, weil sie faul ist und nicht selbst fliegen möchte. Der Adler mag das nicht, duldet es aber, da es ihn kaum weiter in seinem Flug belastet." Ich weiß noch, dass ich die Stirn runzelte, weil sich mir so gar nicht erschließen wollte worauf er hinaus wollte.
"Er trägt sie ein gutes Stück und eine zweite Krähe sieht das. Sie setzt sich mit auf seinen Rücken. Nun spürt der Adler, dass er kräftiger mit den Flügeln schlagen muss, um seine Höhe zu halten. Um sich festzuhalten, beißen die Krähen mit ihren Schnäbeln auch noch in sein Gefieder. Als nach einer weiteren Strecke eine dritte Krähe hinzustößt, beginnt der Adler in Ruhe aufzusteigen." Das Bild zeichnete sich vor meinen Augen ab. Er sprach zu meiner lebhaften Vorstellungskraft. "Warum steigt er auf? Macht es das nicht noch schwerer für ihn?"
"Das ist so. Aber hör mir weiter zu. Der Adler ist stark und ist schon oft weit und hoch geflogen. Seine Flügel sind kräftig und seine Lunge ist gesund. Als er höher und höher aufsteigt, hört er das Gelächter der Krähen, die sich über die nahende Erschöpfung lustig machen wollen. Aber noch während sie lachen hört er, dass ihnen die Luft wegbleibt. Sie krächzen und keifen panisch und als die erste von ihnen sein Gefieder loslässt, tut es die zweite aus Panik gleich und auch die dritte lässt nur ein paar Augenblicke später los. Weißt du, was passiert ist, Zaeed?" - "Nein... ihnen ist die Luft weggeblieben?"
"Denn er ist so hoch aufgestiegen, dass die Krähen in dieser Höhe gar nicht mehr atmen konnten. Der Adler selbst schon. Auch wenn er sich dabei anstrengen musste, selbst wenn er sich zu viel Disziplin ermahnen musste, weder schlug er nach den Krähen, noch unternahm er irgendwelche gewagten Manöver. Er stieg einfach ruhig und diszipliniert in die Höhe." Mir erschloss sich nun, was mein Vater mir sagen wollte. In dem Moment konnte mich die Geschichte durchaus aufmuntern. Allein schon weil ich mir ausmalte, wie der Adler nach diesem Kraftakt wieder allein und beinahe meditativ seinen Flug in höchsten Höhen fortsetzen musste konnte ich mich mit ihm in Verbindung bringen. Vorsichtig und trotz einer Tränenspur auf der Wange schmunzelte ich.
"Und diese Krähen.. sind die anderen. Bei der Ausbildung. Sie wollen mich niedermachen, weil es für sie bequem ist, über mich zu lachen. Weil sie zu faul sind, nachzudenken was sie da tun."
Das Lächeln meines Vaters weitete sich und er strich behutsam über den silbernen Falkenschnabel seines Gehstocks. "Die Krähen stellen jedes Problem dar, das dich an deinem Aufstieg hindern möchte, Zaeed. Es sind die anderen, die dich kleinhalten möchten, es sind deine Zweifel, die sich an dir festbeißen, es ist jeder Balast, der dich daran hindert an die Stärke zu gelangen, nach der du strebst. Du kannst besser als alles das sein. Und du bist auch besser. Sobald du einmal begriffen hast, wie hoch du eigentlich steigen kannst und wie weit du dich über diese hindernden Gewichte erheben kannst, umso unwichtiger und weniger werden sie. Du allein bestimmst darüber, wie sehr du das, was die Welt dir entgegenwirft auf dich einwirken lässt."
Merkwürdig ergriffen musste ich auf den Boden sehen und einem Schlag Grashalme beim Wachsen und Wanken zusehen. "Ja.. ja, ich glaube, ich kann sie abschütteln. Sie alle." - "Du breitest einfach deine Flügel aus und steigst auf, Zaeed." - "Ich breite einfach meine Flügel aus und steige auf. Ja."
Kurz vor dem Ende dieses unerwarteten Ausflugs sah ich das Lächeln meines Vaters seine Augen erreichen.
"Jetzt komm, begleite mich nach Hause. Deine Mutter wollte heute Apfelkuchen machen, ich glaube, da kann ich gleich zwei Stücke für dich raushandeln. Als Starthilfe für einen hungrigen Adler." Etwas schwach musste ich auflachen, aber als er anschließend gegen meine Schulter klopfte und ein vertrautes "Du schaffst das. Ohne jeden Zweifel." aussprach, glaubte ich an seine Worte.
Jahre später begriff ich, dass er mich durch eine unmöglich harsche Erziehung erst wie rohes Erz schmolz und mir ab diesem entscheidenden Moment eine neue Form gab. Das war nur der erste Schritt. Die Rüstung, die ich brauchte, um diese Welt bewältigen zu können.
Es ging mir auch nicht aus dem Kopf, wie dieser Adler in Höhen, die sonst kein anderer Vogel zu erreichen schien allein den Himmel durchquerte. Mittlerweile glaube ich, dass ich nicht der einzige bin, der hier seine Runden zieht. Es gibt noch ein paar mehr.
Und ich bin mir sehr sicher, dass auch sie hier oben kreist.
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