Ein Büro im Rurikviertel. Aus dem teuren Webteppich der Kanzlei stachen Keramikscherben gleich Knochensplittern hervor. Es sollte ihr dritter Kaffee an einem geschäftigen Abend werden. Die Annonce, sich eine Aushilfe zu suchen, lag ungeschickt auf dem Schreibtisch, direkt neben einem goldgerahmten Portrait ihres sechsjährigen Sohnes.
"Für ihn tust du das alles?"
Ein Bücherregal erhob sich mit Distanz, die durch den Teppich überbrückt wurde, im Rücken eines etwaigen Besucherpärchens. Beide Stühle waren gepolstert. Gemütliche Samtkissen für gut betuchte Gäste. Sie stand auf einem von ihnen, plötzlich ein Eindringling in ihrem eigenen, mit schlaflosen Nächten erarbeiteten Büro.
"Er hat eine krumme Nase. Die muss von seinem Vater sein, außer sie wurde schon einmal gebrochen. Rauft dein Sohn sich gern, Lyv? Ist er von dieser Sorte? Das muss schwer für so eine ordentliche Mutter sein."
Sie würde gerne antworten, doch ihr blieben die Worte im Hals stecken. Mittlerweile hatte sich dort ein Geschwür aus Trauer, Erschöpfung und Überforderung angestaut und jedweder Laut fiel einem undeutlichen Wimmern zum Opfer.
"Und wie ist das erst mit dem Recht zu vereinbaren? Wir haben unsere Gewalt an die Krone abgetreten, nicht wahr? Wenn dein Sohn sich das nicht abgewöhnt, wird er noch eine Lust ausprägen den Gesellschaftsvertrag zu brechen. Wieder und wieder. Was ist er dann? Asozial? Unsozial? Untauglich? Bitte erleuchte mich. Wie du weißt habe ich kein einziges Kind. Außer du willst jetzt und hier eins mit mir zeugen?"
Hinter seiner hässlichen Maske lächelte er. Sie strengte ihre ausgeweinten Augen zu einem Fokus an. Ein schmaler Mann, ein bedrohlicher Mann. Gelangweilt griff er sich eine ihrer Mandantenakten vom Schreibtisch. Dort saß er, der unseriöseste Anwalt in ganz Götterfels inmitten eines hochernsten Büros mit allerhand seriösen Fällen. Stille und das gelegentliche Rascheln der aufgeschlagenen Papierakte. Es fand sich nichts von Interesse.
"Weißt du..." Das Stöbern in der Akte fand ein Ende. Er schloss sie, bettete das Schlangenleder seiner Handschuhe darauf. "... eigentlich könnte ich deine Hilfe brauchen. Ich stecke in Schwierigkeiten. Aber wann immer ich die Hand nach Hilfe ausstrecke..."
Mit einem sinnbefreiten Kopfschütteln blieb der Satz unvollendet.
"Irgendwann streckte ich die Hand sogar nach den Göttern aus. Doch durch den Himmel brach mir meine eigene entgegen. So können die Dinge kommen, was? Du, im Schoße guter Bildung aufgewachsen, ich, eine aus der Kanalisation gestiegene Abscheulichkeit. Man entwickelt zwischen Rattenleichen und den widerlichsten Auswürfen übrigens eine gute Nase."
Luftig stand er auf, langte nach einer ihrer Fallakten, striff um den Schreibtisch herum. Er genoss es, zu einer erfolgreichen Frau mitten in ihrem gefestigten Leben aufzusehen. Hoch oben hatte sie ihren Kopf und keine Möglichkeit, den Blick weit zu senken. Hautenge Handschuhfinger glitten über ihren stramm geflochteten, blonden Zopf. Ein tiefes Einatmen. Ordnung, Strenge, Eleganz.
"Hier stinkt es nach Tod." Es waren die Worte, die das Leben in Lyvs Stimme zurückerweckten. "Bitte... Ich helfe.. helfe dir." Nun hätte er sich zu weit strecken müssen, um die stabilen Flechten weiter entlangzufahren. Das war es nicht wert.
"Nein. Nein, Lyv. Wir hatten unsere Chance." Ihr Puls beschleunigte in einem letzten Aufbäumen, die Brust bebte rasend. Heiße Tränen stiegen aus ihren Augen, kein Laut verließ mehr ihre verzweifelt speichelnassen Lippen. Der Mann presst den rechten Stiefel gegen den Stuhl.
"Mach dir keine Sorgen wegen deinem Sohn. Ich kümmere mich um ihn." Es hätte ein letzter Protestlaut werden sollen, aber als der Stuhl zur Seite kippte wurde durch ihren dick um den Hals geschlungenen Zopf alle Luft und jeder Laut abgeschnitten. Es war kein langer Kampf.
Bei seinem ruhigen Abgang tat er einen großen Schritt über den kaffeebesudelten Teppich. Für seinen nächsten Besuch wäre Kakao sicher mehr angebracht. Kinder lieben Kakao.
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