72. Tag des Steckling

Wie so oft zu dieser Jahreszeit, hatte sich auch heute der Nebel wieder zwischen die Gassen und Dächer von Götterfels gelegt und dem sonst farbenfrohen Treiben der Stadt einen Riegel vorgeschoben. Addison war in ihren tiefgrünen Seidenmorgenmantel gewickelt und rieb sich mit ihren Händen über ihre Arme, während der Kaffee vor ihr auf dem Herd leise köchelte. Es war alles andere als ein schöner Morgen und nur langsam wanderte der müde Blick aus dem Küchenfenster hinaus auf die Straße. “Für besseres Wetter könntest du auch mal sorgen…”, murmelte sie ebenso leise wie das Blubbern des Kaffees und schüttelte dabei ihr Haupt. “Milady, ich hätte doch den Kaffee machen können”, erklang es hinter ihr. Das Hausmädchen, selbst noch mit einem Morgengewand bekleidet, eilte neben die Fürstin und übernahm das Kaffee kochen von ihr, während sie ihre Herrin darüber belehrte, dass man sie hätte wecken können, und dass es ihre Aufgabe sei sich um das leibliche Wohl der Adligen zu kümmern, doch während sich Jocelyn den Mund fusselig redete, wandte sich Addison nur schweigend ab und widmete sich voll und ganz dem Fenster.


Einige Stunden waren vergangen und die Fürstin hatte ihre morgendlichen Rituale beendet. Die schwere, schwarze Robe schleifte über den Holzboden, als sie sich abermals in der Küche ihres Hauses wiederfand. “Jocelyn, bitte sag mir, dass die Körbe vorbereitet sind.” Das Hausmädchen war gerade in den letzten Zügen die besagten Körbe herzurichten und nickte ihrer Herrin nur knapp zu. “Gut, wie jedes Jahr ist der Ablauf bis in die kleinsten Details geplant. Sollte mich jemand sprechen wollen, vertröste ihn auf morgen.” Ein weiteres Mal nickte das Hausmädchen nun, ehe sie schließlich von den Körben zurück trat und die Fürstin nur sanft anlächelte. Addison begutachtete das Werk ihrer Dienerin und tatsächlich huschte auch ihr für einen flüchtigen Augenblick ein Lächeln über die roten Lippen. Die Körbe waren genau wie in ihrer Vorstellung geworden, jeder Korb war bestückt mit einer Flasche Wolsey-Whiskey, einem kleinen Trockenkuchen nach elonischem Rezept, einem persönlichen Brief von Addison zum Todestag des Baron Wolsey, sowie, wie auch in den Jahren zuvor, mit einer Schmuckschatulle, in der sich die berüchtigte Speichen-Brosche befand, die Addison seit Jeremys Tod selbst immer bei offiziellen Anlässen trug. Addison nahm einen der Körbe auf, richtete mit der freien Hand die eigene Brosche an ihrem Kleid und machte sich zum Hauseingang auf.


Diesen Tag hatte sie bereits sechs Mal begehen müssen, man hätte meinen können, dass sich eine Art von Routine eingespielt hatte, doch auch beim siebten Mal waren die Wege, die vor ihr lagen, alles andere als leicht zu beschreiten. Mit dem ersten Korb bewaffnet, machte die Fürstin sich zu ihrem ersten Termin auf. Jaime Wolsey, der uneheliche Sohn von Jeremy, hatte sie bereits erwartet und sie zu einer Tasse Tee hereingebeten, doch Addison lehnte wie immer ab. Das Geplänkel mit der Fürstin war dem Spross des verlorenen Freundes längst bekannt und so nahm er schließlich nur seinen Korb entgegen und verabschiedete sich von der alten Hexe.


Geschäftigt wie sie war, ging sie direkt nach Hause, um den nächsten Korb zu holen und als die Rothaarige in die Gasse zu ihrem Anwesen einbog, öffnete sich bereits die Türe zu selbigem und Jocelyn hielt ihr den gewünschten zweiten Korb entgegen. Der zweite Korb war wie immer für Aedan Berlînghan vorgesehen, auch hier war es nur ein kurzer Abstecher zu seiner Geschäftsadresse und der Korb wurde ohne viele Worte an einen Bediensteten überreicht. Immer wieder ging es für die Fürstin hin und her, bis schließlich nur noch ein Korb übrig war. Der Korb war größer als die übrigen, bestückt mit der doppelten Menge von allem, und die ältere Dame hatte sogar leichte Probleme, ihn von der Stelle zu bekommen.

Wie die Jahre zuvor, war es inzwischen Abend geworden und die Lichter der Straßen wurden entzündet, während sie mit dem Schritt langsamer wurde und den Blick schließlich gen Himmel richtete. Sie verweilte eine Weile mit geschlossenen Augen am Straßenrand, ehe sie den kurzen Moment der Schwäche von sich abstreifte und schließlich ihren Weg fortsetzte. In dem dämmrigen Licht der Straßenlaternen ging es zu ihrem letzten Halt, Marlene und Dorian Ashcroft. Am Ashcroft-Anwesen angekommen, starrte sie die Tür regelrecht an, fast als würde sie erwarten, dass diese sich von selbst öffnete, so wie es ihr eigenes Protkoll vorgesehen hatte. Addison seufte resigniert und lachte schließlich leise auf: “Irgendwo muss man ja doch vom Protokoll abweichen…”, sie stellte den Korb vor ihren Füßen auf die Treppenstufe ab und nahm den Klopfer in die Hand. Sie verharrte eine ganze Weile so, als ob sie wartete, dass ihr Protokoll doch eingehalten wurde. Doch irgendwas an ihr nagte, die Zweifel in ihrem Kopf wollten ihr keine Ruhe geben und schließlich legte sie den Klopfer wieder behutsam an die Türe, ehe sie langsam die Stufen wieder hinunterschritt. “Vielleicht ist es besser so”, murmelte sie leise, ehe sie unter dem Sternenhimmel den Heimweg antrat.

Kommentare 2

  • Es ehrt mich so, dass mein alter Charakter selbst heute noch mit solchen Geschichten geehrt wird und man immer noch an den alten Stinkstiefel zurück denkt. Vielen dank dafür!

    Jeremy Wolsey, mögest du in Frieden ruhen. Es waren schöne Zeiten, aber wir schaffen auch Neue!

  • *Tätschelt die Schulter von der Hexe tröstend.*