Morgenstunde

Der goldene Löffel klirrte leise bei jedem Umrühren des morgendlichen Kaffees, in der feinen Porzellantasse des Rurikstadt-Cafés. Für diese Jahreszeit war es ein erstaunlich milder Morgen gewesen, die Blätter der umliegenden Bäume begannen zwar bereits sich in herbstliche Farben zu tauchen, doch das Zwitschern der verbliebenen Vögel erweckte gar einen fast schon sommerlichen Eindruck. Zart brachen einige Sonnenstrahlen durch das Blätterdach hervor und tauchten den Platz vor dem Café in ein warmes, goldenes Licht. Der Anblick wäre ein Traum, wäre man nicht viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.


Vor Addison lagen etliche an ungeöffneten Briefen auf dem Tisch ihres Stammplatzes, direkt gegenüber der Rurikhalle, doch der Blick und die Haltung der Fürstin deuteten bereits darauf hin, dass ihre Gedanken noch weit weg vom alltäglichen Trott festhingen. Unentwegt ließ die Fürstin den Löffel in ihrem Kaffee kreisen, während das Haupt mehr als gelangweilt auf ihrer Handrücken ruhte, der Blick richtete sich dabei immer wieder auf das altehrwürdige Gebäude direkt vor ihr.


“Veränderung würde Euch nichts anhaben, solange ihr Euch selbst davon überzeugen könnt”, die Worte von Keisha Bourdillon hallten noch immer durch ihre Gedanken und damit noch eine Vielzahl an weiteren Fragen, die wie ein warmer Sommerregen mit einem Mal auf sie niederprasselten. War sie wirklich so durchschaubar geworden, dass sogar eine völlig Fremde hinter jede einzelne Fassade blicken konnte. Beiläufig nahm die Fürstin einen Brief und mit gekonntem Schwung wurde dieser geöffnet, herausgenommen und mit gelangweiltem Blick gelesen.


“Solange ihr Euch davon überzeugen könnt”, hallte es wieder und sie knallte den Brief mit flacher Hand auf den Tisch. Der Kellner, der soeben an ihren Tisch getreten war, stellte der Fürstin nur wortlos ihr Frühstück hin, ehe er wieder fluchtartig in das Innere des Etablissements verschwand. Genervt ließ die Fürstin endlich von ihrer Kaffeetasse ab und riss ein Stück ihres Croissants ab, ehe sie abermals das Schriftstück zu lesen begann, doch erneut an der gleichen Stelle, hallte wieder die Stimme der Bourdillon durch ihren Kopf.


“Schön, ihr habt gewonnen”, murrte die Fürstin und legte den Brief an die Seite, um das erste Mal an diesem Morgen die Umgebung wahrzunehmen. “Vielleicht lebe ich ja wirklich zu sehr in der Vergangenheit, vielleicht habt ihr Recht.” Addison hob die Tasse an und nahm einen großen Schluck des Kaffees, als ihr Blick sich auf einen der ungeöffneten Umschläge richtete. “Vielleicht lebt die Vergangenheit aber auch gerade erst wieder auf”, schmunzelte sie und öffnete den Umschlag mit dem Siegel des Rurik-Palas.

Kommentare 1

  • Es freut mich riesig, dass du den Gesprächsfetzen von der Rurikhalle in einer Geschichte verewigt hast! Bin ja gespannt, wie die alte Addison sich vlt noch an die neuen Lebensumstände gewöhnt.