Der Bach

Sie trug ihre kurzen Lederstiefel zusammengebunden über die Schulter gehängt. Während sie über die morgentaufrische Wiese ging, ließ sie den Blick in die Ferne wandern. Ein frischer Morgen an einem der letzten Tage des Stecklings, frühe Boten des Koloss standen bereit. Der Sommer war vorbei. Die Wärme, die lauen Abende im Tal. Das würde bald klirrender Kälte weichen müssen. Als sie sich dem Bach näherte, konnte sie beinahe beobachten, wie sich der Morgennebel langsam wieder gen Sumpf zurückzog. Das Wasser sah klar und eiskalt aus, aber etwas in ihr drängte sie, ihre Zehen in den Bach zu tauchen. Mit einem tiefen Atemzug stieg sie bald schon mit beiden Füßen ins Wasser und spürte den eisigen Griff des Wassers. Es war ein unangenehmes Empfinden und gleichzeitig befreiend. So stellte sie sich den Griff von Grenth vor, wenn er jemanden auf die letzte Reise mitnahm. Langsam watete sie tiefer in den Bach hinein. Das plötzliche Gefühl der Traurigkeit kam unerwartet. Der Übergang vom Sommer zum Herbst war nie einfach und der eiskalte Bach schien diesen Wechsel zu symbolisieren. Die ersten Blätter waren bereits verfärbt und sie wusste, dass das leuchtende Grün der Bäume bald durch die satten, warmen Herbsttöne ersetzt werden würde. Eine Wiedergutmachung der Natur. Im trüben Grau des bevorstehenden Wetters, konnte man sich zumindest an warmen Laubfarben erfreuen. Trotz des melancholischen Tons ihrer Gedanken lag in diesem Moment auch ein Gefühl von unsagbarer Ruhe. Der kalte Strom war eine stumme Erinnerung daran, dass Veränderungen unvermeidlich waren. Dass sie trotz allen Unbehagens, jener Kälte, welche sie mit sich bringen können, für Wachstum und Erneuerung notwendig waren. Sie schloss die Augen, seufzte, machte einen Schritt nach vorne und rutschte aus. Jede Schönheit des Augenblicks war spurlos verschwunden und ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Kopf. Zitternde Finger griffen zum nassem, braunem Haar und tasteten die Wunde am Hinterkopf ab. Sie war gestürzt und mit dem Kopf gegen einen der umspülten, großen Steine geprallt. Der plötzliche Schlag machte sie für einen Moment desorientiert und verletzlich. Viel mehr als jedes alkoholisierte Getränk des vorangegangenen Abends. Als das kalte Wasser über sie hinwegströmte, erkannte sie den Ernst ihrer Lage. Sie war allein, nass und verletzt in einem abgelegenen Teil des Tals. Ihre Gedanken rasten, während sie darum kämpfte, sich wieder zu orientieren. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine reagierten im ersten Moment nicht. Angst erfasste sie, als ihr klar wurde, dass dies womöglich das Ende sein könnte. „So?“ zischte sie leise und schüttelte den Kopf. Das kalte Wasser schien in ihre Knochen einzudringen und ließ sie unkontrolliert zittern. Doch dann veränderte sich etwas in ihr. Sie erinnerte sich an die Widerstandskraft und Stärke, die sie im Laufe der letzten Jahre aufgebaut hatte. Sie wusste, dass sie weitermachen musste, um gegen die Kälte und den pochenden Schmerz zu kämpfen. Sie drehte sich langsam auf den Bauch und ließ sich noch ein klein wenig von der Strömung mitreißen. Ihre Kleidung sog das eiskalte Wasser auf, doch dann begann sie sich mit ihren Armen im seichten Gewässer aufzurichten. Langsam spürte sie, wie das Gefühl von Kontrolle zu ihr zurückkehrte. Sie kämpfte gegen den Strom und weigerte sich jetzt aufzugeben. Das war noch nicht das Ende.

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