Eine familiäre Schuld

Jolene sah ihren Vater an, der auf dem Sofa lag und vor sich hinmurmelte. Er erkannte sie nicht mehr, er hielt sie für eine Fremde, die ihn quälte. Er war krank und diese Krankheit, die sein Gedächtnis und seine Persönlichkeit zerstörte, fügte ihr immer mehr unsichtbare Wunden zu. Sie pflegte ihn bereits eine ganze Weile. Sie hatte ihr Studium abgebrochen, ihre Freunde verlassen, ihr Leben aufgegeben, um für ihn da zu sein. Aber er liebte sie nicht, er hatte sie nie geliebt. Er liebte stets nur sich selbst und die Arbeit. Selbst seinen Sohn hatte er nie geliebt. Er sah in ihm nur ein schwaches Abbild seiner Selbst. Ob er ihre Mutter jemals geliebt hat, weiß sie nicht.


“Du bist schuld, du bist schuld”, sagte er immer wieder mit schwacher, rauer Stimme. “Du hast sie umgebracht!“


Sie wusste, dass er von ihrer Mutter sprach. Er gab ihr die Schuld an ihrem Tod, weil sie kurz nach ihrer Geburt krank geworden ist. Er hatte ihr das schon oft vorgeworfen, aber es tat immer noch weh.


“Nein, Vater, das stimmt nicht”, sagte sie ruhig. “Mama ist friedlich eingeschlafen, sie hat nicht gelitten. Sie hat dich geliebt, mich geliebt und auch Milan liebte sie. Sie liebte unsere Familie.”


“Du lügst!”, schrie er. “Du bist eine Hexe, eine Hure, eine Mörderin. Geh weg von mir, verschwinde aus meinem Haus!“


Sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. Sie wollte ihn umarmen, ihn trösten, ihm sagen, dass alles gut wird. Aber sie wusste, dass es nichts nützen würde - außerdem war es eine Lüge. Er würde sie nur abweisen, sie beschimpfen und nach ihr schlagen. Er hasste sie und sie sehnte sich auch nach so vielen Jahren nach einem liebevollen Vater. Doch es gab keine Hoffnung auf Heilung. Nicht für seinen Verstand.


Jolene stand auf und ging in die Küche. Ihre Hände zitterten, während sie sich auf einem der Küchenstühle niederließ. Eine grüne, freundlich eingerichtete Küche. „Nur noch ein bisschen, Jolene.“ Flüsterte sie sich selbst Mut zu.


Nach einer Weile ging sie zurück ins Wohnzimmer und streichelte ihrem Vater über die Stirn. Sie flüsterte: “Wir haben es bald geschafft. Ich bin mir sicher.“ Er antwortete nicht, er starrte nur ins Leere. Er wusste nicht mehr, wer sie war, er wusste nicht mehr, wer er war, und er hatte vergessen, dass er sie vor einigen Augenblick beschimpft hatte. „Wer seid Ihr?!“ rief er entsetzt.

Kommentare 1

  • Ach Jolene...<umärmel> <3

    Sehr lebensnah geschrieben, es hat mich unheimlich berührt.