Das Erwachen - vor sechs Jahren

Weiches, nahezu romantisch anmutendes, goldrotes Sonnenlicht wusste die finstere Nacht während der Morgendämmerung zu verdrängen, umschmeichelte das nordische Gebirge und brach durch hohe, nadelige Baumkronen, durch die ein wilder Wind flüsterte. Langsam verzog sich auch der dichte Nebel, gewährte damit einen Blick auf den funkelnden Schnee, der den vereisten Boden und das dunkelgrüne Geäst der Nadelbäume zierte.


Die ganze Szenerie hatte etwas trügerisch Friedliches an sich.


Müde blinzelnd öffnete sie ihre Augen, die Wimpern erst durch Tränen verklebt, dann durch Kälte gefroren, erwies sich das wach werden als reichlich schwierig. War sie am Leben? Hatte sie bloß geträumt? Der Kopf dröhnte, der Leib war träge und schwer. Eine halbe Ewigkeit, so fühlte es sich zumindest an, blieb sie reglos liegen, konnte nicht einmal die kleinen Wölkchen erkennen, die ihr Atem formte nachdem sie die Atemmaske abgezogen hatte – stumme Zeugen ihres Überlebenskampfes.

Sie ließ ihr Haupt zur Seite kippen, verengte die Augen zu schlitzen, suchte in der Dunkelheit vergeblich nach Anhaltspunkten, einem Lebenszeichen.


Träge rollte sie sich auf dem kalten Boden auf ihren Bauch, wollte sich mit verzweifelter und schwächelnder Kraft aufstemmen, verzog das Gesicht vor kaltem Schmerz, der ihr durch die halb erfrorenen Gliedmaßen schoss, als sie sich nach mehreren, schwerfälligen Anläufen endlich erhob.



Die Höhle lag in einer erstickenden Stille, so still gar, dass sie ihren eigenen schweren Atem und das irrwitzige Hämmern ihres Herzens hören konnte. Die bittere Kälte hing drückend in der Luft, ließ ihre eisigen Finger durch die Gänge kriechen und legte sich wie ein unsichtbarer Schleier um die Schultern der Viper, deren Iriden in Richtung Kamin wanderten. Der Kamin, dessen einst lodernde Flammen längst erloschen waren. Nicht einmal der leiseste Funke an Wärme glomm noch in seinem Inneren und die Asche lag dort, wie eine erloschene Erinnerung vergangener Tage.


Umgeben von Dunkelheit, schwarz wie ein sternenloser Nachthimmel, tastete sie sich taumelnden Schrittes voran gen Höhleneingang, engte die Augen, als das ungebetene Morgenlicht sie, durch gesprengte Gänge hindurch, blendete und sie zwang, ihre Gesicht wegzudrehen und ihre Augen mit ihrem Arm abzuschirmen.


So stieß sie auf den ersten leblosen Körper, gleich neben einem weiteren. Noch einem. Und noch drei mehr. Sie hatten es nicht in das Herz der Höhle geschafft, ihr Leben in den verästelten Gängen gelassen. Die Angst nahm sie zwischen die Zähne und sie wagte kaum, einen weiteren Schritt zu machen. Verharrte an Ort und Stelle, als hielte gerade eine göttliche Kraft die Zeit an. Die Viper zögerte einen Moment, vielleicht zwei, drei Momente, dann langsam und mit bedacht, fasste sie an die Schulter des Gefallenen, ließ den seitlich liegenden Leib auf seinen Rücken kippen, fürchtend, es könne ihr Meister sein.


Da rollte es plötzlich in einer einzigen, gewaltigen Woge über sie hinweg, sprengt ihren Kopf, ihre Kraft, raubt ihr den Atem, bezwang ihr denken und ihr sein. Taumelnd stolperte sie über ein dutzend Leichen, spürte wie ihr Herz in ihrem Hals klopfte, als sie endlich den ersten Schritt aus der Höhle tat, nur um von einem eisigen Wind getroffen zu werden, der ihr gnadenlos entgegenpeitschte, mit scharfen Böen an ihren Kleidern riss und heulte, wie ein einsamer Wolf.


Die blasse Haut der Viper nahm ein Bad im Morgenlicht, während sich eisblaue Iriden, in deren chaotischen Tiefen man sich verlieren konnte, auf eine blutige Spur im funkelnden Schnee richteten. Offenbar eine Schleifspur, als hätten zwei Personen eine verwundete Dritte durch den nasskalten Schnee gezerrt. Sie hatten ihn.


Vom Donner gerührt, fiel das einst so hübsche Gesicht bei dem vielsagenden Anblick schlagartig in sich zusammen, wie die Sonne, die hinter dunklen, verhängnisvollen Wolken verschwand.


Es ratterte in ihrem Kopf, sie ging jedes erdenkliche Szenario durch, suchte nach Erklärungen. Vielleicht hatten die Schergen bloß einen Verwundeten ihrerseits weggebracht? Das musste nicht das Blut ihres Meisters sein. Das durfte es nicht. Nein, alles war wahrscheinlicher, als das sie ihn erwischt hatten. Ihn ihr weggenommen hatten.

Überdeutlich konnte man ihr ihre Gedankengänge ansehen, einem Zwang gleich schüttelte sie hastig das Haupt. Eins, zwei... siebenundzwanzig… sechsundfünfzig Sekunden lang, bis ihre Kniekehlen nachgaben und sie in den blutigen Schnee sank. Der Anblick war schwerer, als sie ertragen konnte.


Mit einem maßlosen Gefühl der Hilflosigkeit sah sie sich um, erkannte, dass ihre Umgebung verzerrte und verschwamm. Sie weinte, vergrub ihr Gesicht in zierlichen, steifgefrorenen Händen, zitternd wie Espenlaub.


Die Wangen rot vor Kälte, das fettige Haar zerzaust vom Wind, wirkte die einst so energische, leidenschaftliche Viper schwach wie ein trockenes Blatt, das vom nächsten harten Windhauch ins Grab geweht werden könnte.


„Nein… du bist nicht …“ tot, was das Wort, das ihr an die Lippen kam, es aber nicht über jene hinweg schaffte. Sie würde warten. Er würde doch zurückkommen. Er kam immer zurück.


Und so führte ihr Weg sie zurück in die Höhle, an den Leichen vorbei, in das Herz des düsteren Verstecks und zum aller ersten Mal bemerkte sie, wie kalt und trostlos es hier drinnen eigentlich war.


(Bilder alle über Uni-Dream App, gehören mir)

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