Sonnenuntergang. Zwei Männer hatten das düstere Schlangennest am Ende des Friedhofs betreten und zwei Männer hatten die Höhle auch wieder verlassen. Nunja, mehr oder weniger. Jetzt brach die nächtliche Dunkelheit über das Tal ein, drängte das letzte Fünkchen Sonnenlicht hinfort und bot einen strahlenden Nachthimmel, mit Sternen so grell und unausweichlich wie die Wahrheit, die sich hier heute zugetragen hatte.
Im Inneren der Höhle lag sie, die Viper, in der Blutlache ihres Raptors, um dessen verwundeten Hals sie ihre zitternden Arme geschlungen hatte. Sie hielt mit verzweifelter Kraft an dem Tier fest, vergrub ihr Gesicht in der kühlen Halsbeuge des Kaltbluts. Ihre fein geschwungene Nase und die ein oder andere Rippe war gebrochen. In dieser Nacht waren Schüsse gefallen, deren Echo noch immer durch die Gänge zu hallen schien.
Jetzt wo sie allein war und dem schwachen Atem ihres Raptors lauschte, strömte ihr der Schmerz durch den Leib. Fuhr ihr durch den Körper wie ein Blitz, ließ sie erschaudern und schwächeln, bis ihr die Lieder zufielen.
Sie konnte ihn hören. Klar und deutlich. Da war sie wieder, diese Stimme in ihrem Hinterkopf und erstmals, seit vier Jahren, blitzen längst verloren geglaubte Erinnerungen auf.
Eine Erinnerung:
Federnden Schrittes, voll jugendlichem Leichtsinn und gefährlicher Anmut, lauerte sie um den Altar herum. Ließ das eisige Blau ihrer Iriden über den Körper schweifen, der da vor ihr lag. Oder zumindest über das, was davon noch übrig war.
„Wieso bringst du es mir nicht bei?“ konfrontierte sie ihren Lehrmeister in gewagt scharfem Ton, war bedacht darauf, seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Ihm die Stirn zu bieten.
„Ich bin die beste Alchemistin auf dieser Welt.“ Schob sie entschlossen und wenig bescheiden hinterher, untermauerte ihre Worte mit dem Zusammenziehen ihrer Brauen und machte sich größer, als sie war. Ihr Lehrmeister, der Nekromant, starrte ihr stumpf entgegen. Starrte sie nieder, bis sie die gestrafften Schultern wieder zurückfallen ließ. Erst als sich der feine Glanz der Demut in ihren Blick schlich, würdigte er ihr eine Antwort.
„Du hast dich nicht unter Kontrolle.“ Sprach er zu selben Teilen streng wie kühl und noch bevor sie ihre Stimme zum Protest erheben konnte, fuhr er fort.
„Nekromantie ist nicht nur Magie. Selbst die einfachsten Formen der Magie bedürfen enormer Willenskraft und Kontrolle. Schwarze Magie?“ er schüttelte das Haupt: „Sie würde erst dein hübsches Gesicht, dann deine labile Seele in fetzen reißen. Wie willst du Magie beherrschen, wenn du dich selbst nicht beherrschen kannst? Ich kann dich vor anderen beschützen. Ich kann dich nicht beschützen, wenn du anfängst dich in Magie zu knien. Du würdest Schaden anrichten, von dem selbst du nicht in deinen kühnsten Träumen zu fantasieren wagst.“
Die Erinnerung war schwammig, sie konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, der zu ihr sprach. Doch sie erkannte sehr wohl die Wahrheit in seinen Worten. Auch heute hatte sie sich nicht unter Kontrolle gehabt. Zwei kerngesunde Männer hatten diese Höhle betreten. Zwei, zum teil schwerst verwundete, hatten sie wieder verlassen.
Sie bettete ihre Wange gegen den Hals des Raptors, den sie mit Mühe und Not verarztet hatte, als das Mondlicht, welches durch den Eingang der Höhle schien, durch eine Silhouette gebrochen wurde.
„Was hast du getan…“ sprach ein Dritter zu ihr. Stapfte eiligen Schrittes auf sie zu, löste seinen Umhang und warf ihn um die schmalen, in sich zusammengefallenen Schultern der Viper.
„Ich habe dir gesagt, du musst hier weg. Ich habe dir gesagt, du sollst mitkommen… was hast du getan?“ stocherte er väterlich weiter, die Höhle war das reinste Blutbad, er konnte sich ausmalen, was hier passiert war.
„Hilf mir…“ wisperte sie ihm fast tonlos zu und trug einen feuchten Glanz in ihren müden Augen.