Athaid (I)

-Tod-


Sieben Jahren zuvor...


[align=justify][font='Times New Roman, Times, Georgia, serif']„Vater... ich habe die Übungen beendet. Ist es mir erlaubt jetzt schlafen zu gehen?“ Die Stimme des Mädchens klang dünn und trocken, als habe sie vor Ewigkeiten den letzten Schluck Wasser genossen. Ihre Schritte, begleitet von einem Humpeln, führten sie grob um den guten Teppich des Hauses herum, denn ihre weißen Fußsohlen waren blutig von kleinen Kieseln, die sich in die weiche Haut gebohrt hatten. Bis weit über die Knie waren die schlanken Mädchenbeine nackt. Nur Schmutz und Blut klebten daran, welches zähflüssig aus Striemen und unter dicken Schorf hervor quoll und floss. Eine abgerissene, lederne Hose küsste die Hüfte des Mädchens. Ein viel zu großes Männerhemd lag darüber. Einst weiß, nun grau von unbedachter Wäsche und orange an so unzählig vielen Stellen an denen das Blut nicht richtig heraus gewaschen worden war. Unter dem Stoff krümmte sich ein erwachender Torso leicht nach vorn um zu verbergen was unter dem Grau sinnlich heran reifte.
„Vater?“
Die nackten Zehen wagten sich einen Schritt weiter. Erdbeerblondes Haar fiel auf schmale, etwas knochige Mädchenschultern. Grob mit einem alten Schuhband hochgebunden, so dass winzige Strähnen den schlanken Hals entlang lockten, sich verspielt über ihrer Halsbeuge kringelten. Große, fast riesig anmutende Augen lagen unbewegt auf dem schattenhaften Umriss des monströsen Sessels, der vor den Kamin geschoben war. Der flackernde Feuerschein zeichnete dunkle Dämonen an die verstaubten Regale und die Spinnenwebecken des kleinen Salons.
Merkwürdigerweise roch es hier drinnen nach Pisse und modrigem Holz. Nach Schimmel, Schweiß und ungewaschenem Mann. Und es roch nach weit mehr. Alkohol zum Beispiel. Streng und markant. Schlechtem Atem und dem Moschus von keimender Lust. „Vater?“
Nackte Füße wagten sich noch einen Schritt weiter. Sonst musste sie spätestens hier halt machen, so dass der Makel ihren Vater nicht wieder wahnsinnig werden ließ. Wenn sie weiter ginge, würde eine Flasche ihre Schläfe treffen oder ein Schlag ihre Wange in wildes Feuer verwandeln. Doch heute zuckte der Mann nicht einmal zusammen, trotz ihrer Nähe. Selbst in der tiefsten Ohnmacht und dem ärgsten Suff, hatte er sich bisher immer unter ihrer Nähe gewunden. Der Schatten wirkte auf ihn besonders stark. Sie hatte keine Ahnung warum- doch wenn sie den Hass in den Augen des Vaters erkannte, dann war sie sich sicher, dass er es sich denken konnte. Verraten hat er es ihr niemals. Nur grobe Andeutungen hin und wieder schale Munkeleien, wenn er in einem guten Fiebertraum des Alkohols versunken war. Dann war stets ein Frauenname gefallen- nicht der ihrer Mutter. Und liebevolle, fast zärtliche Verwünschungen dieser Frau, ehe er in wahnsinniges Gelächter ausgebrochen war.
Sie wusste nicht, was passiert war. Sie wusste nur, dass jeder, der in ihre Nähe kam es fühlte. Manche kaum. Andere stärker. Je sensibler und empfänglicher der Geist, umso empfindlicher reagierte der fremde Körper auf die Nähe der Milchhaut. Und ihr Vater litt besonders stark unter ihr.
Von Geburt an hat er sie deswegen gehasst. Und zugleich hat er sie geliebt wie nichts anderes in der Welt. Je älter sie wurde, umso wilder wurde sein Blick. Manchmal hatte er sich und sie stundenlang gemartert, indem er einfach nur ihre Hand wie einen Schraubstock umspannt gehalten hatte. Und dann wieder prügelte er sie, wenn sie ihm auch nur zu nahe kam. Seit er sie im Suff mehrfach mit der Mutter verwechselt hatte, sie mit ihrem Namen ansprach, verbarg die ihren Körper und band das Haar hoch. Gewirkt hatte es kaum.
„Vater... ist es mir erlaubt?“
Jeden Tag der Ausbildung brachte sie treu und ergeben hinter sich. Sie versuchte nicht zu klagen und sie versuchte noch weniger zu weinen. Auf Bäume klettern und auf Dächer, sich durch Schächte und Felsspalten zwängen, ganz gleich wie viel Haut sie dabei verlor. Auf dem Seil tanzen. Tief fallen und so aufkommen, dass nicht ein Muskel schmerzte. Es brauchte drei Jahre bis sie es konnte. Einmal hatte sie sich dabei das Bein gebrochen. Zweimal den Arm.
„...“
Die behaarte Pranke ihres Vaters ragte über das Polster der Armlehne des Sessels. Unter ihr, auf dem Teppich lag eine von unzähligen Whisky-Flaschen, aus der noch etwas bernsteinfarbenes Blut quoll. Es war merkwürdig, ihr Vater verschüttete niemals Alkohol.
Das Mädchen trat näher. Mit ihren vierzehn Jahren noch immer etwas klein und spindeldürr. Sommersprossen lagen auf dem Nasenrücken, welche aber in den nächsten Jahre dankenswerterweise erbleichen und verschwinden würden.
Sie wagte sich nochmals näher. Noch immer keine Reaktion. „Vater... geh zu Bett... es ist spät...“
Sie umrundete den Sessel und stieß einen leisen, tonlosen Laut aus, als sie unweigerlich einen Schritt zurück torkelte und fast über eine der Flaschen gestolpert wäre.
Ihr Vater starrte ihr blicklos entgegen. Die Unterlippe hing schief in jenem gebräunten, rot unterlaufendem Antlitz herab. Ein dicker Geiferfaden perlte aus seinem Mundwinkel. Seine Augen starrten seine Tochter an und sahen doch durch sie hindurch, die Hand noch immer so gestreckt als wollte er die Flasche nochmals vom Boden rupfen.
Über die Jahre und den Alkohol hin hatte sich ein fetter Wanst über den breiten Ledergürtel gepellt, den das Mädchen so zu hassen gelernt hatte. Fettflecken standen auf dem milchiggelben Hemd, welches er trug. Das blonde Haar war nunmehr grau und schütter, klebte in lächerlich spärlichen Strähnen über der Glatze des Mannes.
Sein Anblick war ekelerregend. Sein Anblick war furchteinflößend und verabscheuungswürdig.
Und doch- er war der einzige Mensch, den sie jemals kennen gelernt hatte. Athaid die Elster- ihr Vater. Ihr Mentor und Lehrer.
„Nein!“ Nunmehr taumelte sie auf den bereits kalten Leib des Vaters zu. Sie begann ihn zu schütteln. „Nein... nein... nein!“ Sie bettete die schwielige, eisige Hand an ihre Wange, doch sobald sie die Pranke los ließ, fiel diese ohne Halt sogleich wieder lahm herab. „Nein... nein! Nein... nein... nein...“
Sie presste die Lippen auf die des Mannes und blies heißen Atem in die stinkende Mundhöhle des Leichnams. Mittlerweile erfüllten heftige und tiefe Schluchzer den Raum. Ihre kleinen Hände trümmerten gegen den Brustkorb des Alten. Wieder und wieder. Sie spürte unter Aufwallen von Ekel wie eine Rippe unter ihren Bemühungen einknackste. Doch nichts geschah. „Papa, nein!“, schrie sie nun unter wildem Heulen und Schluchzen und Weinen. Zwischen seinen Beinen kniend, die Arme über seinem Schoß gekreuzt, versank das Gesicht auf den eigenen zitternden Gliedern, während sie sich ihrer Verzweiflung hingab. Schreiend und weinend. Zitternd wie ein Blatt im Wind und heulend wie ein Neugeborenes. „Lass mich nicht allein...“, fiepte die Mädchenstimme. Tränen ronnen aus dem rot verzerrten Gesicht. Tiefe Gramesfalten zeigten sich um die Augenwinkel und auf der Stirn. „Bitte...“ Nässe kroch ihr aus Augen, Nase und Mund, während die Hände sich schmerzlich in den Stoff seiner Kleidung gruben. „Bitte... Papa... PAPA!“
Doch sie erhielt niemals mehr Antwort auf ihren Ruf.


Stunden später stand eine dunkel gekleidete Elster auf einem der weichen, grünen Hügel des Landstrichs in Kessex. Zarter Wind spielte am Gefieder der Kleidung die er anfertigen ließ für den Tag an dem sie bereit wäre. Auf dem Kopf ruhte ein Dreispitz der wohl einem Löwengardisten entwendet worden war. Die Maske verhüllte das zarte Antlitz.
Emotionslos starrte sie gen Tal aus welchem sich dicke Rauchsäulen empor stemmten. Sie beobachtete das letzte Flackern des Feuerdämons, den sie selbst mit den Resten an Alkohol und Kaminglut entfacht hatte. Die nun schwarzen Balken ihres Zuhauses, brachen als letzte Ruhestädte über den verkohlten Überresten ihres Vaters zusammen und wirbelten weißen Ascheschnee auf, der mit dem Wind hinfort getragen wurde. Robins Augen folgten einem Moment den tanzenden Flocken und eine davon legte sich sanft, küssend auf ihrem Handrücken ab.
Athaid wandte sich um und ging. Die Elster flog davon und die Legende blieb am Leben.

"Wer die Klinge beim Griff ins Dunkel nicht erwartet, den schneidet sie umso tiefer!"


"If you think that this has a happy ending, you haven't been paying attention"