Nach dem Rat

Helena fühlte sich unzufrieden damit, wie der Familienrat heute gelaufen war. Es waren nicht die Ergebnisse, die ihren anfänglichen Enthusiasmus, mit dem sie stolz und gewichtig erhobenen Hauptes in die Ratsstube gekommen war, getilgt hatten, nein, es war der Verlauf, der sich so widerspenstiger und unharmonischer Gestalt in den Abend gedrängt hatte, dass ihr fast übel war, wenn sie jetzt darüber sann, wo sie allein auf ihrem Zimmer saß und dachte. Sie saß in einem kleinen Stuhl, der in einem opulenten und etwas verschrobenen Stil gebaut worden war, überladen mit dekoartiven Schnitzereien und Lack und hellen Polstern. Es gab reichlich Üppigkeit in diesem Raum, die vielen Blumensträuße, die vornehmlich hell gehaltenen, prall gefüllten Kleiderschränke, die ausladende und formenreiche Spiegelkommode, das vergeuderisch große Bett.
Sie hatte den Stuhl vor die Balkontür gezogen, sich auf der Sitzfläche zusammengekauert, den Schopf gegen die Lehne gedrückt und ein Bein mit hoch genommen, das andere Bein hing in der Luft. Es war ihr Wunsch gewesen, Rat zu halten, aus vielerelei Gründen; weil es nämlich zum einen noch eine Menge Dinge zu sagen gegeben hatte, und weil zum anderen ihre Familie eine Stimme haben sollte, damit über Sachen gesprochen werden konnte, die über ihre Angelegenheit hinausging. Diese ihre Angelegenheit war es aber gewesen, die als Dreh- und Angelpunkt der Zusammenkunst ihre abendliche Debatte begründet hatte, und ihretwegen war Helena mit einem Gefühl der Bedeutsamkeit und feierlichen Pflicht aus ihrem kurzen Exil ins Anwesen zurückgekommen, wo ihre Hoffnungen zerschellt und ihre Erwartungen enttäuscht worden waren.



Sie hatte feststellen müssen, wie wenig Unterschied es machte, ob sie Einsicht zeigte oder sich hinter vollständiger Sturheit verbarrikadierte, denn am Ende der Dinge war es doch wieder so, dass jeder etwas fand, das er ihr anlasten konnte und aus irgendeiner Hosentasche einen Grund zog, unzufrieden mit ihr zu sein. Es war doch der richtige Ort, um alle offenen Rechnungen anzusprechen (die ihre war übrigens, dass sie auf dem Herbstfest einem Mann, den man ihr als einen von Verucas Entführern genannt hatte, blindlings das spitze Ende eines Zuckerwattenspießes in den Hals gerammt hatte). Und dennoch wurde es ihr als schändlich ausgelegt, dass sie nicht allein das Kreuz trug, sondern die Gerechtigkeit, die sie von sich selbst einforderte, auch von ihrer Familie erwartete. Sie konnte stolz sein oder demütig, es würde ihr gewiss so gedreht werden, dass es ein unschickliches Bild von ihr abgab. Die Gedanken stimmten sie müde und ihre Wimpern, die lang und schwarz waren, zogen sich unter einer schweren Traurigkeit immer wieder abwärts, gleich darauf immer wieder aufwärts, weil sie kein Jammern mochte und sich selbst in der Opferrolle nicht leiden konnte – ganz gleich aber wie wenig sie für egozentrisches Bedauern übrig hatte, gab es doch eine Sache, wegen der sie sich leidenschaftlich selbst bemitleidete.
Dass von allen Leuten gerade Victor ihr eine Strafe hatte geben wollen war ihr die unvermittelte Ohrfeige ins Gesicht gewesen, für die sie nicht gewappnet gewesen war. Was ihr auferlegt wurde, kratzte sie nicht. Es ging um ein unanrührbares Prinzip, das nicht nur grob angefasst, sondern dabei in die Luft gehoben, fallen gelassen und zerbrochen wurde. Sie würde es irgendwann wieder vergessen, aber noch brannte das Verlassensein in ihrer Brust, denn wenn ihr auch die Strafe nichts ausmachte, hatte sie sich gewünscht, einer wenigstens stünde für sie ein. Nicht, weil es gerechtfertigt war, nur, weil die Seele es manchmal brauchte.
Die größte Bestärkung war aber nicht von Victor gekommen, sondern von links her, wo Veruca gesessen hatte, und sie überhaupt kam ihr wie die einzige verwandte Frau vor, die gerade nicht mit einer Armladung von Anschuldigungen und falschen Vorhaltungen nach ihr warf. Nicht nur die Frauen, auch einige Männer kamen Helena hässlicher vor als sie waren, wenn ihre Bilder ihnen selbst nicht mehr ähnelten, sondern wie verzerrte Leinwände von Anteilnahme für die eigene Person aussahen. Wenn sie klagten, als wären sie die einzigen, denen sich das Leben manchmal hart in den Weg drängte. Und gerade war sie selbst so weich und im Geiste undiszipliniert und der Abend schmeckte wie Magenbitter. Ligia hatte Recht gehabt.