Spoiler aufgrund von Gewaltdarstellung
Spoiler anzeigen
Der Schnee zog sich in feinpulvriger Linie über den Tisch. Helena lehnte sich vor und zog mit einem Ruck in die Nase, was noch übrig war. Sie schnupfte anschließend noch ein paar leere Luftzüge, und als sie die Augen befreit nach oben rollen ließ, blieb ihr Blick an der Decke hängen. Sie waren immer noch dort oben, Adrian und die beiden Geschäftsmänner, mit denen er vor über einer halben Stunde ins Büro hinaufgestiegen war.
Helena hatte ein ausgesprochen schlechtes Gefühl, sie hatte den Männern die verhängnisvollen Nachrichtenan ihren teigigen Gesichtern abgelesen, sowie sie durch die Tür in die Diele hereingekommen waren, und jetzt wartete sie darauf, ob sie in ihrem Talent, die Feinheiten eines Mienenspiels zu erkennen und schnell zu deuten, wieder einmal bestätigt wurde. Selten hoffte Helena darauf, sich zu irren, diesmal tat sie es inständig. Adrian hatte die Männer lachend empfangen, eine Hand in der Hosentasche seiner wie immer eleganten Garderobe versunken, die andere galant zum Wegweis ausgestreckt. Er hatte so manches melodische Wort zum Empfang gesprochen, aber auch in seinem Gesicht hatte Helena Signale gesehen, verhohlene Zeichen einer Gefahr, die wie Schattenzungen in seinen Augen aufgeblitzt waren, sobald sich die Männer vor ihm auf den Stufen befunden hatten.
Es war ganz still. Und das war ganz gewöhnlich bei Adrian. Er war kein lauter Mann, der polterte und schrie. Er hatte Beherrschung gelernt, aber Helena erinnerte sich, dass es nicht immer so gewesen war. Und dass es sich geändert hatte, auch das wusste sie, hatte nicht abgewendet, dass er zu den kaltblütigsten Untiefen fähig war, in die ein menschlicher Abgrund hinabreichen konnte. So waren zumindest die Anekdoten, die in den engeren Kreisen um die Familie kursierten. Er war kein lauter Mann, keiner, der polterte und schrie, weil er die Stille brauchte, um seinen Gedanken den Raum zu lassen, den sie für die Entfaltung ihrer Grausamkeit haben mussten, so sie ihn einmal überkamen. Damals, als sie alle viel jünger gewesen waren, hatte Adrian eine Weile bei Helenas Familie gelebt.
„Adya hat Probleme“, hatte Ilie ihr kleinem Mädchen damals erklärt. „Papa soll ihm helfen, wieder klarzukommen. Nicolae hat ihn hergeschickt. Er will, dass Papa ihm zeigt, wie er sich in den Griff kriegt.“
Die traurige Ironie an der Sache war gewesen, dass Nicolae, Adrians und Verucas Vater, Initiator und Hauptursache der merkwürdigen Verhaltensauffälligkeiten war, die er anschließend bei seinem Sohn beklagt hatte. Helena erinnerte sich. Es stellte sich während vieler mühsamer Gespräche zwischen Paul, ihrem Vater, der Geistheiler war, und Adrian Iorga, Nicolaes Sohn, heraus, dass letzter im Alter fünf zarter Jahre unbeabsichtigt mitangesehen hatte, wie sein Vater eine Gastfamilie, bei der sie in einer garstig kalten Nacht Unterkunft hatten, gewissenlos abgeschlachtet hatte. Dabei hatte er den Mann des Hauses zuerst halbtot geschlagen, ihm aber in Geistesgegenwart seiner rachsüchtigen Motive noch genug Bewusstsein gelassen, damit er miterleben musste, wie Nicolae erst seine Frau an der Tischplatte erschlagen und anschließend sein Kind, jünger als Adrian, stranguliert hatte. Erst dann hatte der Mann sterben dürfen.
Ein ander Mal, Adrian war acht, hatte er ihn zu einem Familienausflug sehr eigenbrötlerischer Art mitgenommen, bei dem es darum gegangen war, zwei junge Frauen, die versucht hatten, die Iorgas zu betrügen, zur Rechenschaft zu ziehen. Sie waren ins nächste Dorf gefahren; dort in der Nähe hatten sie die Mädchen, gerade achtzehn Jahre alt, gestellt. Weil sie versucht hatten, wegzulaufen, hatten Nicolae und seine Männer ihnen die Füße abgesägt, Gewichte an deren Stelle gehängt und sie zum nahen Fluss gebracht, wo sie sie versenkt hatten. Adrian hatte die Füße tragen dürfen. Es war davon auszugehen, dass diese Vorfälle nur flüchtige Episoden eines Albums an Erinnerungen waren, die den jungen Adrian, als er sich gerade erst in Richtung eines Mannes entwickelte, dazu veranlasst hatten, das widerwärtige Verbrechen zu begehen, für das sein Vater ihn schließlich nach Götterfels schickte.
Der fünfzehnjährige Adrian hatte einen Hund, den er sehr liebte und den er, obwohl es sich um einen Rüden handelte, nach seiner Schwester Veruca getauft hatte. Als er nun eines Tages im Namen seines Vaters in geschäftlicher Angelegenheit nach einer Siedlung geschickt wurde, die etwas abgelegen seiner eigenen lag, kam es ihm in den Sinn, den Hund mitzunehmen. Dort lief ihm das Tier weg, und es wäre bestimmt zu seinem Herren zurückgekommen, hätte nicht ein hungernder Radmacher den Hund eingefangen und zu einem Eintopf verkocht, ehe es soweit kommen konnte. Diese Perversion in Adrians Augen machte ihn, als die Gerüchte zu ihm drangen, so fuchsteufelswild, dass er die Leute umgehend aufsuchte.
Hiervon gab es eine Fassung, die Nicolae erzählte, der bei der Sache abwesend gewesen war, und eine die von Adrian selbst stammte. Sie unterschieden sich in ihrer Grausamkeit, stimmten aber in einem überein: In jedem Falle endete es damit, dass Adrian den Radmacher erschoss, ihm ein Stück seines Fleisches herausschnitt und es mit viel Butter briet. Dann zwang er die Familie des Toten, sich ordentlich an den Tisch zu setzen, zu lachen und das Fleisch des Radmachers zu essen. Nicolae behauptete später, er habe seinem Sohn nach diesem Vorfall hinterherräumen müssen und diese Unvorsicht sei ihm von allem das Besorgniserregendste gewesen. Adrians Fassung endet damit, dass er Mann, Frau und beide Söhne selbst entsorgte. Wer das Feuer nun letztlich gelegt hatte war allerdings nie eine Familienstreitigkeit geworden, da man über diese Sache gemeinhin nicht mehr sprach.
Paul hatte Adrian damals helfen können, seine Zornausbrüche zu kontrollieren. Doch etwas Dämmergraues, das kalt wie der grimmige Tod tief in seinem Inneren saß, hatte sich dort in ihm verhärtet und manchmal zeigte es sich. Wie ein sündiger Zwilling, ein unheilschwangeres Zwielicht dämmerte es, schlug ein und verzog sich wieder weit hinab in die Versunkenheit dieses schwarzen Schlunds, in dem seine Seele wohnte.
Adrian hatte immer noch unsägliche Methoden, obwohl es selten soweit kam, dass alles Licht im Raum verlosch und der Mann sein Gesicht wandelte. Er hatte ein sonniges Gemüt entwickelt, war so diplomatisch geworden, dass er scherzhaft verkündete, er töte mittlerweile nur noch so selten, es sei fast schon eine Ehre, von ihm gerichtet zu werden. Wehe dem, der ihn umstimmte und ihn diese Errungenschaft vergessen ließ.
Helena hoffte, dass den beiden Männern, die oben bei ihm waren, diese zweifelhafte Ehre nicht zuteil würde. Es tat sich was auf den Stufen, eine Tür wurde zivilisiert geöffnet, drei Männer kamen herunter. Adrian begleitete sie bis zur Pforte, wo er sie freundlich verabschiedete. Dann waren die Männer fort und Adrian wandte sich Helena zu, die noch am Küchentisch saß. Sein Gesicht war wie ein See, der unter den Gefrierpunkt gefallen war. „Organisier etwas“, sagte er.
Kommentare 1