Sie starrte nieder auf das Gesicht des Mannes und lächelte mit einem Gefühl tiefster Rührseligkeit. In ihrem ganzen Leben hatte sie wenig Friedvolleres gesehen als einen schlafenden Menschen. Nur schlief dieser hier nicht. Er hatte die Augen offen, die blicklos ins Leere sahen, bis es sie zu stören begann, sie zwei Finger abspreizte und seine Lider mit der Behutsamkeit einer Liebenden hinabschob. Sie war fasziniert von seinem Bild, von der Schönheit des Entschlafenseins, mit dem sie alle Last und Schlechtigkeit von ihm genommen hatte. Er war wieder unschuldig wie er es nur in der unmittelbaren Stunde seiner Geburt gewesen war. Sie hatte ihn von allem Bösen gereinigt.
Aber jetzt musste sie ihn fortbringen. Der Schinder war nicht mehr da. Als sie sich vom Bett erhob, roch sie, dass der Körper des Mannes sich zu entleeren begann, er stieß alles aus, zog die Reinigung fort, die sie an ihm begonnen hatte. Wenn sie ihn nicht zum Schinder bringen konnte, musste er anders aus dem Schmutz seines Umfeldes geschafft werden. Sie hatte es zur Aufgabe bekommen, sich darum zu kümmern. Victor legte gern Feuer. Aber Feuer war nicht gut. Feuer zerstörte mit gefräßiger Ungeduld, was sie mit den Gaben aus Melandrus Erde geschaffen hatte. Feuer war, so empfand sie es, der Atem Balthasars, den fürchtete sie, den mochte sie nicht.
„Aber denk mal, aus der Asche kann Neues erwachsen“, hatte dereinst ihr Bruder zu ihr gesagt, der Balthasar liebte, aber sie hatte darauf den Kopf geschüttelt, dass ihre blonden Zwirbellocken nur so geflogen waren.
Jetzt stand sie hier mit einem Toten, an dessen Tod sie sich keine Schuld gab – er hatte sie beide eingeladen, hier zu sich in sein Haus auf dem Land – und fand einen Handspiegel auf dem Schreibtisch. Er war rund, klein, mit altgoldenen Ornamenten reich umsäumt und seine saubere Oberfläche reflektierte einen großen Blick von hellblauer, einheitlicher Farbe, der Augen entsprang, die zu ihren äußeren Rändern hin schmaler und höher verliefen, ein wenig nur, aber genug, um ihr einen immerzu neugierigen Ausdruck zu verleihen. Sie senkte den Spiegel, als es an der Tür wummerte.
„Hallo?“
„Wir sind wieder da.“
Sie zögerte einen Atemzug, aber sie kannte die Stimmen. Es waren die Männer, mit denen sie hergekommen war.
Organisier etwas, hatte es geheißen. Das hatte sie getan. Sie hatte realistisch gehandelt, nicht allein loszuziehen, sondern sich zwei baumlange Söldner mitzunehmen, Vertraute der Familie, die, obwohl sie zweifelhaft aussahen, das Konzept der Loyalität gut verstanden. Sie ließ die Männer ein, die mit Schubkarre und Spachtelmasse in den Keller abstiegen. Als sie den Toten holen kamen, sahen sie sich mit dem geschmeidigen Hindernis eines schmalen Körpers konfrontiert.
„Müsst ihr ihn schon runterbringen?“
„Was soll er denn machen? Noch ein bisschen in seiner eigenen Siffe liegen?“
„Er könnte.“
Die Männer brachten den Mann unters Haus, ohne ihm den Schaum vom Mund zu wischen. Dort verschwand er hinter einer neuen Wand. Wie glücklich sie für ihn war! Jetzt hatte er sogar noch ein richtiges Grab bekommen.