Ich sehe was, was du nicht siehst...
(Teil I, damals)
Fasziniert beobachtete Andrej den zuckenden Leib unter Wasser. Immer wieder lief seine Hand Gefahr, von der glitschigen Haut abzurutschen, doch immer wieder gelang es ihm, erneut zuzupacken und seine Beute festzuhalten. In Panik öffneten sich die Lippen in hektischen Bewegungen, auf und zu, auf und zu...ein leichtes Grinsen stahl sich auf das Gesicht des Jungen. Wie oft waren sie zu dem See gegangen um zu angeln, er, sein Vater und sein Bruder. Sein Vater hatte immer die Stille gemocht, die früh morgens oder am späten nachmittag über dem Waldsee gelegen hatte. "Hier kann man spüren, wie nah man den Göttern ist." hatte er immer gesagt. Das Leben ist ein Geben und Nehmen hatte er ihnen erklärt. Sie fingen den Fisch zwar und töteten ihn, dafür würden sich jedoch ihre Mägen füllen und andere Fische im Teich hätten Gelegenheit, ihre Jungen groß zu ziehen. Alles war ein Gleichgewicht. Doch für Andrej gab es kein Gleichgewicht. Für Andrej gab es nur den Moment, in dem der Fisch an der Angelschnur aus dem Wasser gezogen wurde und im panischen Todeskampf seinen zappelnden Tanz auf der Wiese vollführte. Wie er von rechts nach links zuckte, nach oben sprang, zurück auf den Boden fiel und wie die Kiemen immer schneller und schneller klappten bis sie schließlich langsam erstarben. Doch soweit ließ es sein Vater meistens nie kommen, mit einem Knüppel erlöste er das Tier von seiner Qual und beendete das Schauspiel, dem Andrej immer so gerne zusah.
Er blinzelte und schob den Gedanken an diese Erinnerung beiseite als er merkte, dass seine Beute offenbar den Kampf aufgegeben hatte. Seine Hand ruhte um den nun reglosen Körper aus dem ihm zwei aufgerissene und nun für immer starre Augen entgegen blickten. Die Lippen waren in stummer Verzweiflung geöffnet doch der fassungslose und anklagende Blick in den Augen gebrochen. Verdammt! Jetzt hatte er nicht richtig aufgepasst, sich von seinen Gedanken ablenken lassen und den Moment verpasst. Den einen Moment, die winzigen Sekunden, in denen das Leben aus dem Körper wich und die Seele verschwand. Der beste Moment von allen. Aber egal...Andrej gab dem dunkelbraunen Schopf seines Bruders einen Stoß und beobachtete wie der kleine Leib tiefer in den See sank. Er hätte ihm einfach nicht folgen sollen. Schon die ganzen letzten Wochen war er ihm tierisch auf den Nerv gegangen mit seinem Gequengele, seiner Fragerei und seinem sturen Gebrüll. Von nichts konnte er seine Finger lassen und überall musste er herum schnüffeln. Und dann war er ihm nach gelaufen, einfach so und hatte sich in einem Busch versteckt um ihn zu beobachten. Das hätte er besser lassen sollen.
"Andrej...? Roman...? Wo seid ihr?" die Stimme seiner Mutter drang leise an sein Ohr. Der Waldsee lag nicht weit von ihrem Hof entfernt und ein Blick gen Himmel verriet ihm, dass es bald Zeit fürs Abendessen sein musste. Ohne sich noch einmal umzusehen wandte sich Andrej ab und kam seiner Mutter entgegen. "Ah, da bist du ja mein Schatz." sie lächelte, beugte sich zu ihm herunter und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Schopf "Hast du deinen Bruder gesehen?" fragte sie und wanderte bereits mit ihrem Blick den Weg, den er gekommen war, entlang. "Er wollte zum See." antwortete er "Ich hab gesagt wir müssen zurück gehen, aber er wollte nicht hören. Ich wollte dich gerade holen." mit großen braunen Augen warf er seiner Mutter einen Blick zu, die die Lippen schürzte. "In letzter Zeit entwickelt dein Bruder aber auch zunehmend einen Dickschädel. Das muss er von deinem Vater haben. Komm, wir gehen ihn eben holen, das Essen ist gleich fertig." Seine Mutter griff nach seiner Hand und willig ließ er sich zurück mit zum See führen. "Roman? Andrej und i-" begann sie, als sie aus dem Wäldchen auf die kleine Lichtung an das Ufer traten doch der Rest des Satzes blieb seiner Mutter im Hals stecken. Ein Stück vom Ufer entfernt, das Gesicht nach unten gewandt, entdeckte sie halb im Schilf verborgen einen braunen, nass zerzausten Schopf. "Roman!" ungläubige Angst erklang schrill in der Stimme seiner Mutter als sie seine Hand los ließ und ins Wasser stürzte. Zu tief war es für seinen Bruder gewesen, aber nicht für seine Mutter. "Roman!" sie griff mit ihren Händen nach dem leblosen Körper ihres Kindes und drehte es herum. "Ro-" setzte sie ein weiteres Mal an doch die schwache Hoffung erstarb, als ihr Blick auf die gebrochenen Augen ihres Sohnes traf. Ein unmenschlicher, gequälter Laut entrang sich ihrer Kehle und sie wandte sich um. "Andrej...lauf und hol deinen Vater, schnell!" wies sie ihn an während sie den Leib an sich drückte als würde er nur schlafen. Es war schlimm genug, dass ihr anderer Sohn mit dabei war, er musste nicht auch noch mehr von seinem toten Bruder sehen. Mit ausdruckslosem Blick - der Schrecken würde man wohl später sagen - fragte Andrej "Was is denn los?" "Andrej, ich hab gesagt geh und hol deinen Vater!" beharrte seine Mutter während sie zurück, näher ans Ufer watete. Andrejs Blick ruhte noch einen Moment auf ihr und dem, was sie an ihre Brust gedrückt in ihren Armen trug bevor er sich um wandte und tat, wie ihm geheißen worden war.
Als er den lichten Waldrand erreichte, konnte er seine Mutter hinter sich immer lauter werdend schluchzen hören. Doch er sah nicht zurück sondern blickte starr geradeaus auf den Waldfußboden. Da fiel ihm auf, dass seine Schuhe naß geworden waren. Offenbar hatte er doch zu nah am Schilf gestanden.