Erkentnisse
(heute)
Nachdenklich neigte Alexandradie Klinge des kostbaren Dolches zur Seite, den ihre Tante ihr voreiniger Zeit hatte überbringen lassen. Es war eine ausgezeichnete Arbeit, die Klinge dünn und scharf, der Griff fein gearbeitet und mit kostbaren Steinen bestückt. Er hatte ihrem Großvater gehört,dass dazu gehörige Schwert befand sich soweit sie wusste noch daheimauf dem Anwesen. Sie legte den Dolch neben sich auf ihre schmales Bett und griff nach dem Brief, der diesem beigelegen hatte. Kurz überflog sie die Zeilen, in den letzten Tagen hatte sie diese bestimmt mehrere dutzend Male gelesen und kannte sie fast auswendig.Es hatte sie ein wenig überrascht, dass es so schnell besser geworden war...im ersten Augenblick hatte sie der Tod von Rekor erschüttert und es war ihr unerträglich erschienen, noch länger in diesem Haushalt zu bleiben. Doch tatsächlich hatte sie feststellen müssen, dass es neben allem, auf das sie hätte verzichten können,doch Dinge gab, die sie in Löwenstein vermisst hatte. Es hatte eine Weile gebraucht, bis ihr das klar gewesen war, aber einfach war sie ja noch nie gewesen. Alex Lippen verzogen sich zu einem Grinsen al ssie den Brief faltete und mit samt Dolch wieder in das kostbare Tuch einschlug. Dann wanderte beides unter die Matratze zu dem Beutel mit den 40ig Silberstücken, die sie für die Expedition erhalten hatte.Ohne es zu merken, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie war vonzu Hause weggelaufen, weil sie nicht gewusst hatte, wo ihr Platz war; in Götterfels war sie davon gelaufen, weil sie gewusst hatte, dass bei dieser Bande ihr Platz definitiv nicht war. Sie könnte natürlich wieder fortgehen und weiter durch die Lande streifen, sie liebte ihre Freiheit und die Möglichkeit, dass zu tun was sie wollte. Aber was brachte ihr Freiheit, wenn sie eigentlich die ganze Zeit auf der Flucht war? Hier hatte sie die Möglichkeit dafür zu sorgen, dass sie in Ruhe herausfinden konnte, was sie eigentlich wollte.
Alexandra neigte sich zur Seite und kramte Pergament und Kohlestift aus ihrem Rucksack, der auf dem Boden am Bettpfosten lehnte. Sie hatte mit der Antwort an ihre Tante Gwendolyn schon viel zu lange gewartet...sie würde den Brief an die Abtei adressieren müssen, da sie mittlerweile gewiss auf ihre Studienreise aufgebrochen war, aber das war ja kein Hindernis. Mit leisem Kratzen begann der Stift, über das Pergament zu huschen. Irgendwann hielt sie im Schreiben kurz inne und schielte aus den Augenwinkeln zu der Kleidertruhe herüber, die neben ihrem Bett an der Wand stand und ihr gleichzeitig als Kommode diente. Das war etwas gewesen, was sie am allermeisten schockiert hatte: die Erkenntnis, dass sie angefangen hatte, die von ihr sonst so abgelehnten Kleider tatsächlich zumögen! Sie musste aufpassen, dass sie nicht verweichlichte...sich ab und an in feine Stoffe zu hüllen war ja ganz in Ordnung...aber ihre geliebten Hosen und Stiefel würde sie nie aufgeben, niemals! Das schwor sie sich mit einem verschmitzen Grinsen bevor sie sich wiederüber das Pergament beugte, um weiter zu schreiben.
***
"Du kannst das Kind nicht für deine Verfehlungen büßen lassen! Das werde ich nicht dulden!" Lord Elijahs Faust donnerte auf den Tisch und es breitete sich eine unangenehme Stille in dem sonst so behaglichen Kaminzimmer aus.
"Meine...Verfehlungen?" Amalias Stimme war leise, kaum zu vernehmen. War sie bei dem plötzlich Ausbruch ihres Vaters gerade noch erschrocken zusammen gezuckt, huschte nun jedoch ein wager Ausdruck von Hass durch den Blick ihrer dunklen Augen, als sie den Kopf hob und Elijah nun unverwandt ansah. "Mein Lebenswandel mag dir als unangemessen erscheinen, aber ich werde nicht dulden, dass du mir in dieser Sache, wo ICH doch das Opfer bin, Vorhaltungen machst! Ich-"
"Unangemessen ist wohl kaum der richtige Ausdruck!" unterbrach Elijah seine Tochter und wischte deren Einwand mit einer energischen Geste beiseite. "Du magst im Recht sein, aber aufgrund deines Rufes lässt sich diese Tatsache bedauerlicherweise nicht zur Gänze klären. Und ich werde nicht zulassen, dass diese Geschichte auf ewig an dem Namen unserer Familie haftet! Und erst recht werde ich nicht zulassen, dass das unschuldige Kind darunter leidet!" wiederholte er seine anfänglichen Worte.
Amalia presste die Lippen aufeinander und starrte auf die dunkel gebeizte Holzplatte. Wie sehr sie dieses Kind hasste! Hätte sie doch nur schon viel früher von der Schwangerschaft erfahren, dann hätte sie dafür gesorgt, dass es nie auf diese Welt gekommen wäre. Leider hatte die Hebamme ihr klar gemacht, dass sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzte, hätte sie versucht, das Kind noch zu diesem Zeitpunkt zubeseitigen. Grimmig zogen sich ihre Augen zusammen und ihre schmalen Hände ballten sich zu Fäusten, so dass die Knöchel unter der eh schon blassen Haut weiß hervor traten. Unglücklicherweise hatte sich der Umstand ihrer Empfängnis nicht allzulange vor ihrem Vater verbergen lassen - unter dem Vorwand einer Reise war sie die Monate vor ihrer Niederkunft in einem ländlichen Kloster untergebracht worden. Eine Magd hatte sich danach als Amme um ihren Bastard gekümmert und tatsächlich hatte sie Hoffnung geschöpft, dieses...Geschwür loszuwerden, als ihr Vater mit seinen Mannen an die Front berufen worden war. Sie hatte der Amme aufgetragen, sich weiter um das Kind zu kümmern und es vergessen. Sie hatte es zumindest versucht. Jedesmal wenn sie jedoch die dunklen Augen dieses Mädchens erblickt hatte, dass mit dem Gesinde als eine von ihnen aß, trank, schlief und lebte fühlte sie sich an IHN erinnert, der ihr das alles angetan hatte. So war es gekommen, dass sie nicht lange hatte an sich halten können und das Kind Opfer ihrer Launen und Wutausbrüche geworden war. Aber auch damit hätte sie leben können wäre ihr Vater vor einiger Zeit nicht zurück gekehrt und hätte er nicht beschlossen, dieses Bastardmädchen in die Familie aufzunehmen.
"...haben wir uns verstanden?" wiederholte Lord Elijah und eine steile Zornesfalte begann sich auf seiner Stirn zu bilden.
Amalias Kopf wanderte langsam nach oben "Ja, Mylord" war alles, was sie von sich gab, die Hände in ihrem Schoß gefaltet und den Blick schnell wieder gemütig gesenkt, um das innerliche Brodeln vor ihrem Vater zu verbergen.
"Gut. Ich werde deine Schwester Gwendolyn davon in Kenntnis setzen und mit dem Mädchen sprechen. Ab sofort nehme ich sie unter meine Fittiche." Entschlossen nickte er und hatte Mühe, Abscheu aus einem Blick fern zu halten, als er seine jüngere Tochter betrachtete. Vielleicht hätte er ihr ihre Verfehlung vergeben können, vor allem da es durchaus Möglich war, dass sie in diesem speziellen Falle die Wahrheit gesagt hatte. Ein winziger Teil von ihm bedauerte sein Kind und machte sich selbst Vorwürfe, was er hätte anders tun können, damit sie sich nicht selbst immer wieder in solche misslichen Lagen manövrierte. Aber mittlerweile war Amalia alt genug und wusste, welche Konsequenzen ihr Handeln hatte. Was er ihr nicht verzeihen konnte war, dass er das Mädchen, ihr eigenes Kind, für ihre Fehler hatte büßen lassen.
"Unsere Unterhaltung ist damit beendet. Du darfst dich entfernen." erwiederte er kühl. Umgehen erhob sich Amalia aus dem Sessel, in dem sie gesessen hatte und wandte sich zur Tür.
Alexandra drehte sich hastig um und fiel mehr die Treppe herunter, als dass sie ging. Glücklicherweise waren die Stufen in diesem Teil des Hauses mit einem Teppich belegt, so dass sie kaum einen Laut verursachte. Unten angekommen huschte sie eilig nach rechts durch die erst beste Tür und presste sich mit angehaltenem Atem gegen die Wand in dem dunklen Raum während draußen auf der Treppe, trotz des Teppichs, wütende und stampfende Schritte ertönten. Das war es also gewesen...fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hatte schon lange gegrübelt, was es wohl war, dass sie an sich hatte, dass die Herrin Amalia ihr mit soviel Abneigung, ja Hass begegnete. Aus dem restlichen Gesinde war wenig heraus zu bekommen gewesen, aber dass, was sie mit unnachgiebigem Bohren und verbotener Weise belauschten Gesprächen herausgefunden hatte, hatte ihr die Vermutung nahe gelegt, die sie gerade bestätigt bekommen hatte. Völlig verwirrt sank sie mit dem Rücken an der Wand hinab und hockte sich auf den Boden. Das war es also. Das war der Grund für die heimlichen Blicke des anderen Gesindes, die sie ihr zuwarten, wenn sie dachten sie sähe es nicht. Der Grund dafür, dass sie egal was sie tat und wie gut sie es tat, die Herrin Amalia immer etwas daran auszusetzen hatte. Der Grund für die vielen Strafen und Schläge. Und der Grund, warum sie sich irgendwie immer, egal wo sie war, fehl am Platze gefühlt hatte. Aber was sollte sie jetzt tun?
***
Alexandras Kopf ruckte hoch und im ersten Moment fragte sie sich, wo sie war. Dann kam die Erinnerung und der Schmerz so plötzlich wieder, dass sie ein leises Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Die Festung. Die Belagerung. Der Kampf gegen diese verfluchten Golems...der eine davon hatte ihre Rippen ganz schön ordentlich gequetscht. Die Blutergüsse, die ihren Bauch und ihre Seite zierten konnten sich sehen lassen, sie war nur froh, dass keine ihrer Rippen gebrochen war. Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich zurück aufs Lager sinken und blinzelte die Reste ihres Traumes fort. Loken, der neben ihrem Bett geschlafen hatte, schob die Schnauze über die Decke und stubste sie an, hatte ihr treuer Gefährte ihr Stöhnen doch vernommen. Mit einem Lächeln fuhr Alexandra dem Wolf über den Kopf und ließ dann ihre Hand in dem dichten Nackenfell ruhen.
Es war nicht das erste Mal das sie kämpfte, tatsächlich auch nicht das erste Mal, dass unsicher war, ob sie mit dem Leben davon kommen würde. Aber es war das erste Mal, dass sie mit Kameraden kämpfte. Das erste Mal, dass sie für einen anderen, einen Fremden, kämpfte. Jemanden, den sie kaum kannte. Dem sie sich aber verpflichtet hatte, als sie in den Dienst seines Hauses getreten war. Doch was war mit ihrem eigenen Haus? Sie war froh, den Mut gefunden zu haben, ihrer Tante diesen Brief geschrieben zu haben und sie hoffte sehr, sie würde bald eine Antwort erhalten. Sie machte sich nicht wirklich Sorgen, irgendwie ruhte in ihr die Zuversicht, dass sie diese Belagerung schon irgendwie heil überstehen würden. Was sie sich jedoch viel mehr fragte war, ob sie das konnte. Ihr Leben in den Dienst eines Anderen stellen während sie zu ihrer eigenen Familie doch kaum Kontakt hatte. Daran waren gewiss ihre Mutter und ihre Abneigung ihr gegenüber, und natürlich der Tod ihres Großvaters Schuld. Aber Gwendolyn, ihre Tante, war anders. Und die kleine Isabella hatte sie wirklich ins Herz geschlossen. Nein...es musste eine Möglichkeit geben, Familie und ihre so liebgewonnene Freiheit unter einen Hut zu bekommen. Aber zuerst einmal...galt es wieder aus dieser Feste heraus zu kommen.