"Legt die Bögen nieder! Angriff!"
Es war das erste Mal in seiner Karriere, dass Vectus diesen Befehl selbst geben musste, und er tat es in tiefer Erschütterung. Er war ein Narr gewesen zu glauben, das Schlimmste gesehen zu haben, was diese Welt an Kriegsführung zu bieten hatte. Seine Seraphen-Bogenschützen warfen ihre sperrigen Fernwaffen zu Boden und griffen zu Kurzschwertern, Knüppeln und Äxten, um sich in den Kampf zu werfen.
Die Formation war von Anfang an bestenfalls mittelmäßig gewesen, von irgendeinem jungen Offizier in Eile aufgezogen bevor die Schützen überhaupt ihre Stellung beziehen konnten, und ihre Bemühungen hatten nicht genügt. Die Linie aus Piken und Schilden hätte nach draußen in den Canyon gemusst, statt sich hinter dem Tor zu verschanzen, aber dafür war es jetzt zu spät.
Alles war viel zu schnell gegangen. Die erste größere Salve aus Explosivpfeilen, die sie über die Köpfe der anderen nach draußen schossen, hatte noch vernichtende Wirkung gezeigt. Auch wenn die Dinger kriechend langsam flogen, hatte Arkanistin Bell in der Wirkung nicht zu viel versprochen. Danach jedoch war es mit der Ordnung schnell bergab gegangen, denn die Biester kamen und durchbrachen das Tor viel zu schnell, während die regulären Brandpfeile sie kaum zu stoppen schienen.
Einzig der riesige, blonde Norn schien noch ungerührt zu stehen, eine Naturgewalt, sie alle überragend. Der Schweinehund hatte die durchbrechende Mordrem-Hülle eigenhändig niedergerungen und suchte nun schon nach dem nächsten Gegner, in den er seine Axt treiben konnte. Links und rechts davon pflügten die flachen, gehörnten Kreaturen durch die Reihen, welche die Leute von der Abtei Durmand 'Teragreifen' genannt hatten.
Ihre Gestalt erinnerte Vectus vage an einen Colocal - einen sehr vernichtenden, schrecklich blutrünstigen Colocal.
Schwer wie leicht gerüstete Infanteristen der Seraph-Wache wurden auf den Hörnern dieser Monster aufgegabelt oder durch die Luft gefegt, und wenngleich erstere ihre nächsten Atemzüge nicht mehr erlebten, so taten sie zumindest ihren Teil, die Bestien zu verlangsamen. Eine kleine Gruppe um Lillian Teclis und den Soldmann Faeryllian hatte die Kanone wieder freigekämpft, doch im Moment schien das Niemandem weiterzuhelfen.
Priester Dronon war der nächste, den Vectus niedergehen sah. Von einem Teragreifen mitgerissen und noch zäh genug, sich wieder hochstemmen zu wollen, wurde der Mann aus rotem Stahl rücklings von der schwingenartigen Klaue der Kreatur aufgespießt. Der Priester Balthasars riss die Augen mit der Gewissheit eines Kriegers auf, der sein Leben an sich vorbeiziehen sah, eh er Blut spie und an Ort und Stelle zusammen brach.
Überall schwirrten diese grässlichen, von den trollartigen Kreaturen losgelassenen Insekten umher, sie attackierten jede Lücke, die eine Rüstung zu bieten hatte. Zur Rechten wurde am Heftigsten gekämpft, Stahl auf Borke, während aus dem Boden sprießende Dornenranken die Menschen einfingen. Vectus fand sich gemeinsam mit anderen vorgestürmten Schützen sowie zurückgedrängten Infanteristen dabei wieder, wie er auf die Flanke eines anhaltenden Pflanzenmonsters einhackte.
Es verging nur noch eine kurze Weile des Gefechts, eh der niederschmetternde Befehl kam. Eine Weile, die mehr in Trance an Vectus vorbeizog. Er hasste es, einen sicheren Posten aufgeben zu müssen und im Gedränge zu kämpfen, und als er sich schließlich davon erlöst fand, wusste er nicht, wie er es geschafft hatte, unverletzt zu bleiben.
"RÜCKZUG! RÜÜÜCKZUUUG! TIEFER INS LAGER!", schrie Jemand. Vectus sah nicht, wer es war, aber er gehorchte dem Befehl ohne lange nachzudenken, als einer der ersten.
Doc Moyles und zwei leichte Infanteristen schliffen den leblosen Dronon durch die Gegend, manch ein Sanitäter oder solidarischer Kamerad mühte sich mit weiteren Toten und Schwerverletzten ab, doch der Schützen-Feldwebel hatte kein Interesse daran, seine Schnelligkeit für soetwas zu opfern. Bis zu dem Moment, da er diesem Söldner gegenüberstand, diesem Bryden, den Wolsey mitgebracht hatte und der tatsächlich nun noch den Bogen hob und auf einen Mordrem irgendwo im kämpferischen Gewirr schoss.
"Vollidiot, schieß doch nicht mitten ins Getümmel!", gellte Vectus dem Kerl entgegen, und binnen eines Herzschlages bündelte sich all seine Frustration, all seine Wut über diese vernichtende Niederlage auf den Mann. Er polierte ihm die Fresse, ohne lange darüber nachzudenken. Der Söldner gab Wiederworte, Vectus aber hörte garnicht zu, gab einigen anderen vorbeirauschenden Bogenschützen den Befehl, ihn wegzuschleifen.
Weiter, immer weiter ging es, vorbei an einer in der Hektik umgestürzten Feuerschale, brennenden Kohlen mitten auf dem Weg. Er hatte Glück, dass er seinen Langbogen ohne Schäden im Holz wiederfand. Das nutzlose Kurzschwert scheidend, klaubte er den Bogen auf, während der Strom ihn in Richtung des Lagerbereiches spülte.
Im Passieren konnte er eine Truppe Wachsamer aufmarschieren sehen, welche die Seraphen ablösten. Er vermochte nicht zu sagen, ob der Befehl zum Rückzug deswegen gekommen war oder nicht.
Die nächsten, schleppenden Minuten verbrachte der drahtige Feldwebel damit, den schier nicht abreißen wollenden Strom aus ins Lager gespülten Soldaten und Freiwilligen zu koordinieren. Es war Arbeit genug, zuzusehen, dass Niemand im Gedränge tot getrampelt wurde. Vectus fragte sich, ob dies die Rache war. Die Rache der Götter für sein lasterhaftes Leben unter ihren Augen. Erst wurde Canius zugerichtet, und nun das.
Es blieb ihm keine Zeit, den Gedanken zu vertiefen. Teclis zog in der Nähe vorbei, in Richtung des südlichen Tores, und das erinnerte Vectus daran, dass es noch Arbeit gab.
Seine Adjutantin Lyran hatte er nicht gesehen, seit es in den Nahkampf gegangen war. Vermutlich lag sie tot am Tor oder verwundet im Lazarett. Der Feldwebel sammelte die erstbesten Unverletzten seiner Bogenschützen zusammen, die er zu Gesicht bekam.
"Asbury! Scholz! Mir nach! Das hier wird eine lange Nacht."