Alltägliches

Helena saß mit gekreuzten Beinen auf dem Küchentisch und band Teeblumen, als es einen furchtbaren Schlag tat. Es knallte und rumpelte, kurz nachdem oben die Bürotür aufgerissen wurde. Sie streckte sofort ihre Füße und sprang auf, und als sie um die Ecke spähte, kam ihr mit dem Rücken voran ein Mann entgegen, überschlug sich auf den letzten Stufen noch einmal und blieb liegen. Sie glotzte den Fremden ein paar Sekunden lang an, ehe sie sich abwandte, zurück zu ihrem Platz, und ihre Arbeit wieder aufnahm.



Etwa zwei Minuten nachdem der Mann sich mühsam wieder aufgerichtet, sich den Nacken gehalten und schweigsam in einer Ecke der Diele postiert hatte, kam sein Partner die Treppen herunter. Er hatte einen ordentlichen, aber sichtbar steifen Gang, als er einen misstrauischen Schritt in die offene Küche vorstieß.
„Euer Bruder wünscht Euch oben zu sprechen“, teilte er Helena mit. Sie hörte das Zögern in seiner Stimme. Sein Blick wich ihr aus. Er war weichgeklopft, vielleicht von Anfang an, spätestens aber seitdem sein Freund aus den Verhandlungen ausgeschlossen worden war, indem Adrian ihn
a limine die Treppe heruntergestoßen hatte. Ohne den Männern ein Abschiedsworts zuteil werden zu lassen, stand sie wieder auf, sah ihnen vom Geländer aus noch zu, wie sie das Anwesen verließen, und trat dann selbst oben ins Büro.



„Die haben mich für Veruca gehalten. Oder dich für Leon.“
„Die haben dich für Veruca gehalten.“
Adrian saß zurückgelehnt in seinem hohen Lehnstuhl, so wie man sich ausmalen konnte, dass ein König es in seinem Thron täte, wenn er sich allein wüsste und einfach mal bequemer sitzen wollte. Sein rechter Arm war bis über das Pult ausgestreckt und hielt an dessen Ende ein Glas Rum oder Whiskey umfasst, irgendeine braune Flüssigkeit.
„Wer waren die?“
„Das waren Nohrer und Siebermien. Sie arbeiten für die Ioancezar.“
Helena spähte zu dem einladenden Sofa an der Wandkante, ließ sich dann aber Adrian gegenüber nieder.
„Ist was Schlimmes passiert?“
„Gar nicht.“ Seine Laune schien irgendwo zwischen riskant und heiter zu pendeln. Dass er aber in seinem Stuhl herumlungerte formulierte in einer Sprache, die es gar nicht gab, die geringe Wahrscheinlichkeit einer Eskalation.
„Warum ist dann gerade einer von beiden kopfüber die Stiege runter geflogen?“
Adrian zog mit einem Ruck das Glas zu sich. Sein Blick stieß gereizt zu ihr vor.
„Weil er frech war. Helena.“
Helena reckte den Hals und blickte ungehemmt auf ihre Nägel. Unter einem davon stak ein abgebrochenes Teeblatt. Sie pulte es heraus.
„Und warum hast du mich rufen lassen? Ich binde gerade Teeblüten.“
Es war zu viel erwartet, sich von Adrian Verständnis oder Interesse zu erhoffen für so gestalterisches Beiwerk, wenn er selbst mit den Gedanken beim Geschäft war. Und bei Adrian war eigentlich alles Geschäft.
„Hat Toni schon die Hand von Victor besorgt?“ Er wollte von ihren Teeblumen wirklich nichts wissen. „Elizabeth braucht sie, bevor sie total verfault ist. Du hast ihr doch gesagt, wo sie ihn findet, oder?“
„Sie weiß, wo er ist.“ Mit einem Mal half es nur noch wenig, dass er so nachlässig im großen Stuhl saß. Helena begriff, dass es sich in keiner Weise auf das Ausmaß seiner Autorität auswirkte. „Ich wollte mit dir ohnehin noch über Victor sprechen.“
Adrian lächelte. Es war ein dünnes, wissendes Lächeln von der Sorte 'Ich weiß schon, was du denkst, du willst wieder irgendetwas Inkonsequentes, aber diesmal bekommst du es nicht'.
„Du willst ihn in Schutz nehmen.“
„Er ist Familie, Adya.“
„Denkst du das weiß ich nicht.“ Sie hatte ihn veranlasst, das ganze Glas auf einmal zu leeren. Die Spannkraft seiner Glieder war für Helena fühlbar, als er aufstand und an ihr vorbei ging, zu der Hausbar in der Ecke des Büros, wo er nicht nur für sich, sondern auch für sie ein Glas eingoss. Helena drückte die Knie zusammen und drehte sich mit, und als er vor ihr stand und ihr den Whiskey, der es riechbar war, übergab, merkte sie, dass seine Haltung viel lockerer war, als es über den sehr wichtigen, sehr gebieterischen Tisch hinweg den Anschein machte. Oder er änderte sich von hier auf jetzt. Er nahm den zweiten Stuhl auf der Besucherseite des Pultes, das sie nicht mehr wie ein Balken einer zwischen ihnen beiden unklaren und unbeständigen Rangordnung trennte; sie waren einander unmittelbar gegenüber. Er saß auf der Kante und ihr entgegen gelehnt.
„Als ich damals für meinen Vater einen Handel mit einem Löwensteiner Geschäftsmann abgeschlossen habe, bei dem es darum ging, anderthalb Tonnen Kupfer sicherzustellen, ohne dass ich es vorher mit Nicolae absprechen konnte, weil die Gelegenheit sonst dahin gewesen wäre, hat er vor den Augen seiner Männer zuerst den Schürhaken genommen und ihn mir übers Kreuz gezogen, weil ich den Handel nicht von ihm hab absegnen lassen und mich erst dann gelobt.“ Adrian schob das Glas, das schon wieder zur Hälfte geleert war, auf die Pultkante. Seine Ellen hatte er auf den Knien abgelegt und schloss die Hände in dem leeren Raum dazwischen. „Es gibt gewisse Regeln, Leni, an die wir uns alle halten müssen. Victor weiß das.“
„Vergiss aber nicht, dass er viel Gutes getan hat.“
„Das vergesse ich nicht. Ich vergesse auch nicht meine Schuld an der Sache. Ich hab ihm zu viel auferlegt. Ich war derjenige, der ihm den Schutz der Familie aufgetragen hat und komme jetzt nicht umhin, mich zu fragen, ob er die Leute, vor denen er uns zu beschützen glaubt, nicht erst zu unseren Feinden gemacht hat. Einige davon zumindest, um ihm nicht ganz Unrecht zu tun.“
„Er sieht das gar nicht. Er ist stolz-“
„Er ist stolzverblendet. Hätte Victor im Laufe seines Lebens einige Entscheidungen anders getroffen, dann könnte dieser Stuhl dort jetzt seiner sein. Aber er hat es vorgezogen zu trinken und die Frauen seiner Verwandten zu schwängern. Er hat es nie bis nach oben geschafft, aber immerhin bis in die Mitte. Das berechtigt ihn nicht dazu, eigene Geschäfte hinter unserem Rücken zu treiben, mit dieser Lynn scheint er aber eben das zu tun, oder weißt du, was er mit ihr macht? Außer sie zu f-“
„Adrian.“
Viel Ernüchterung und viel Bedauern steckte der Rede ihres Vetters in den Knochen. Helena hörte und spürte es nicht nur, sie sah es auch, denn eine schöne Eleganz dehnte sich, je größer seine Unzufriedenheit wurde, immer unverbildeter über seine Züge, breitete sich faunisch dort aus und drängte sich dem Beobachter in alle Sinne. Sein Auftreten war auch in der legersten Form noch geschliffen.
„Du hast Recht“, befand er unter störrischer Einsicht, lächelte ärgerlich und kippte den Whiskey runter. Das Aufstellen des leeren Glases auf einem Stapel eng beschriebener Unterlagen war ein Schnitt im Sujet ihres Gesprächs. „Reden wir über etwas anderes. Wie sieht es mit dem neuen Hausdiener aus?“
„Hermes war in Löwenstein und hat mit deinem Vater verhandelt.“
„Und? Kriegen wir Libanez' Sohn?“
„Nicolae braucht ihn. Er soll Verucas Haus bewachen. Angeblich war das sogar dein Wunsch. Er schickt uns Vito, Libanez' Neffen. Ein starker Bursche, dumm, aber für die Arbeit geeignet. Und wenn einer im Haus Ärger macht, kann Vito anpacken.“
„Also tut er, worum ich ihn gebeten habe.“
„Vera bewachen lassen? Sicherlich. Ich schätze, du kannst froh sein, dass er sie nicht zu sich holt.“
„Nicht, dass er es nicht vorgehabt hätte.“
Helena zögerte. Dies war ein empfindliches Thema. Es war leichter anzugehen, wenn sie wusste, dass Adrian bei Laune gehalten würde.
„Weiß Vera davon?“ Während sie fragte, öffnete sie die Siegelfläche ihres klobigen Silberrings. Als sie die Hand über dem Tisch kippte und vorsichtig das weiße Pulver aus dem Korpus des Familienerbstücks rieseln ließ, verfing sich Adrians Blick an ihrer Hand.
„Wir müssen über Cird reden.“
„So? Müssen wir dann auch über Elizabeth reden?“
„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
Ein Klopfen an der Bürotür schob sich hinderlich ins Gespräch.
„Immer rein!“, rief Adrian, obwohl er dem Eingang keinen Blick abspaltete, sondern mittlerweile über den Tisch gebeugt tief einzog, was er zuvor zu einer langen dünnen Linie geschoben hatte.
Nikolajs Kopf und dann Körper erschienen im Büro.
„Adrian“, begann er und verharrte anfänglich nahe der Tür. „Lenchen.“
„Kolja.“ Schon das Wort brachte Wärme in Helenas Stimme, die aus einem Bereich des geteilten Verständnisses herströmte, vielleicht sogar eines, das alt und längst verjährt war, das manchmal plötzlich verschwunden und nicht mehr greifbar, dem Inneren entzogen war, um dann andernorts zu anderer Zeit wieder ans Ufer ihres Bewusstseins zu treiben. Sie folgte seinem Blick zu dem Schnee auf dem Tisch und lächelte mildernd, als seine kalten Augen keinen Kommentar abgaben, sondern sich auf Adrian einfanden und warteten, bis der Boss sich aufgerichtet hatte und zuhörte.
„Kolja“, grüßte auch er. „Willst du was?“
„Nein, lass gut sein. Ich bin gleich wieder weg. Unten steht so ein Typ. Sagt, er kommt aus Löwenstein und soll hier arbeiten. Ein ziemlicher Brocken, er nennt sich Vito.“
Adrian und Helena tauschten einen Blick.
„Also dann!“


Jetzt saß sie allein am Schreibtisch und hörte noch das nachwirkende Sniffen Adrians hinter sich, als er energetisch – ein Visionär mit Blick nach vorn, der im Repertoire seines Geistes keinen Platz für Trübsal gelassen hatte, nicht einmal den Unschuldigen zu Ehren, die er getötet hatte – sein Büro durchschritt, dem Rubinstein auf die Schulter klopfte, sich nach Helena drehte, auf sie zeigte.
„Wir reden noch über den Unfug, den du da in den Raum geworfen hast.“
Seine gefällige Stimme ließ es klingen, als würde es ein Spaß werden. Aber es würde keiner werden.

Kommentare 4

  • Ach jetzt weiß ich was du meinst! =) Nein nein, du verstehst das falsch, keine Sorge ^^

  • <bekommt Schnappatmung>
    Helena! Ich meine... oh man! <glucks>
    Das kann sie doch nicht machen!

  • In denen zur Abwechslung niemand stirbt =D <3
    Vielen Dank =)

  • Gefällt mir sehr! Liest sich sehr angenehm und ich mag es, Geschichten zu lesen die aus dem Alltag gegriffen sind und in denen zur Abwechslung niemand stirbt. Weiter so!