„Hast du dir das mal überlegt?“, fragte Ilie, als er am gedeckten Küchentisch über Zwiebelgebäck und Rahmtöpfe zu seiner Schwester starrte, die gegenüber auf dem Stuhl saß und, indem sie eine gebutterte Stange aus Laugenteig immer wieder in den Händen drehte, hingebungsvoll seine riesengroßen Augen anhimmelte. „Adrian ist jetzt Iorga-Boss in Götterfels. Wenn Nicolae irgendwann draufgeht..“
„Du meinst..“ Die bestehende Aussicht war ihr tatsächlich schon in den Sinn gekommen, und so war es sichtlich, dass sie seine Denkweise verstand. „Dass Adya ihm nachfolgen wird. Beunruhigt dich der Gedanke?“
„Kann ein einzelner Mann überhaupt soviel Verantwortung auf seinen Schultern tragen und weiter aufrecht gehen?“
„Ein Mensch.“
Ilies Glotz intensivierte sich. „Was?“
„Du hast Mann gesagt. Meinst du eine Frau würde es schaffen? Vielleicht hast du sogar Recht.“
Ilies spitzes Kinn zuckte hin und her. Er winkte grob ab. „Ach.“ Er wollte noch mehr sagen, doch er tat es nicht. Die Tür ging, und es war Adrian selbst, der von außen herein kam, mit seinem aufrechten, selbstverständlichen Machthabergang über die Schwelle kam und dann im Raum stehen blieb.
„Müsstet ihr nicht eigentlich bei der Arbeit sein?“
„Andere Leute gönnen sich ab und an einen Geschmack von Mußestunden, Adrian.“
Adrian hielt inne. Seine Augen, die derartig groß waren, dass sie einen zu schlucken vermochten, wenn man nicht achtgab, schimmerten in einem warmen Braunton des Hohnes, wie er gern höhnisch war, ob man es nun verdient hatte oder nicht. Es war diese Art von wohlmeinender Freiheit zum verwegenen Selbstausdruck, die ihn gesellschaftlich so wertvoll machte, mit der er die Menschen packte, sie gleichsam mit dem sehr herausfordernden Teil seines Wesens zu lenken und verbessern suchte. Adrian war ein Mann, der oft mehr in den Menschen sah als sie selbst, und der dann nichts mit mehr Leidenschaft durchzusetzen sich bemühte, als ihr Interesse an den eigenen Vorzügen zu wecken. Gerade ruhte seine Aufmerkamkeit so ungeteilt, wie er sie gern beließ, auf Helena.
„Haben andere Leute sich schon um die Umleitung der Seidenstein-Waren gekümmert?“
„Ich hab es an Leon abgegeben. Er nimmt es in Angriff.“
Ilie und Helena zusammen an einem Tisch sitzen zu sehen hatte eine Friedlichkeit, die wahrscheinlich niemand verstand, der nicht den nostalgischen Blick in die Vergangenheit hatte, der Adrian kam, wenn er die Geschwister beieinander in stillem Einverständnis vorfand, dreinschauend, wie es jedem Unbekannten nur befremdlich vorkäme in ihrer störrischen Art, widerspenstig anzumuten ohne die geringste Bewegung zu machen oder den unbedeutendsten Laut von sich geben zu müssen.
Sie waren jetzt erwachsen, aber wenn sie gemeinsam am gleichen Fleck waren und er sie wie ein Gemälde betrachtete, umgab sie noch der Schein von damals, als sie auf Familienfesten wichtig im Garten umhermarschiert waren und mit stolzgeschwollener Brust „Nicolae Iorga“ spielten. Mit großen Gesten hatte Helena damals zu unsichtbaren Wächtern Strafen angeordnet, die Ilie oder ein anderes Familienmitglied auszustehen hatte, das gerade nicht hoch in ihrer Gunst stand. Die Jüngsten waren freilich nie bei einem Geschäftsgespräch dabei gewesen, hatten aber genug in den Unterhaltungen der Älteren aufgeschnappt, um sich ein klares Bild vom Ablauf der familiären Obliegenheiten zu machen, um ihre untereinander geteilten Darbietungen, durchwoben vom Garn der kindlichen Unbedarftheit, voll Selbstbewusstsein zum Besten zu geben.
Einmal war Helenas Befehl gewesen, dass man Nikolaj, der ihr wieder eine Geschichte aufgebunden hatte, hinter die sie gekommen war, an einem Bein aufzhängen habe und ihn dann, während man seinen freien Fuß mit einer Gänsefeder kitzele, in einem großen Topf aus rote-Beete-Suppe ertränke, die sie damals noch so gar nicht gemocht hatte. Ein ander Mal bestimmte sie, dass Sneshana so lange die vertrockneten Butterbrote des alten Nachbarn Ehrigmann zu essen habe, bis sie davon krank würde und platze.
Sie hatten damals alle noch viel von ihrer Unschuld besessen, und manchen haftete sie rein äußerlich noch an wie ein Stigma, ein findiges Licht, das sich vom Dunkel der Geschäfte nicht einlullen ließ und immer wieder an die Oberfläche trat, dort blendete. Manche setzten diese äußere Unschuld wie eine Spielfigur ein, ließen sie ganze Feldzüge übernehmen, bis dann aus dem Schatten der Randfläche der wahre Spieler trat und ganz anders beendete, was derart unverdorben begonnen hatte.
Adrian hatte einen Augenblick nicht zugehört, jetzt lachte Helena über etwas, das Ilie gerade gesagt hatte und ihm als Unwissenden blieb nur die Einsicht, dass sich einige Dinge niemals änderten. Helena hielt sich an diesen längst vergangenen Zeiten fest. Sie war nicht bereit, herzugeben, was sie damals gehabt hatte und öffnete sich nicht für die Wahrheit, die hinter ihren Taten steckte. Wahrscheinlich war das meiste für sie immer noch ein Spiel.
Ilie hatte es damals schon begriffen. Er hatte es nicht in vollem Umfang nachvollziehen können, doch er hatte geforscht, und irgendwann hatte er angenommen, dass manche Taten Recht waren und andere Unrecht, und von ihnen hatte er sich distanziert. Helena hingegen war wahrscheinlich selbst von dem Licht, das sie aussandte, geblendet und vielleicht ließ sie es gar nicht für die anderen scheinen. Vielleicht trug sie es nur für sich selbst.
„Adya!“
Mit ihrem dünnen Arm ausgestreckt schnippste sie weit weg von seinem Gesicht in der Luft herum während Ilie ihn unverwandt anglotzte.
„Ich hab in Erinnerungen geschwelgt.“
Seine Cousine wunk mit dem Buttergebäck.
„Ich erinnere mich auch. Weißt du noch, wie Tante Xenia dir eine Ohrfeige verpasst hat, weil sie gesehen hat, dass du Vera den Umgang mit Messern erklärst?“
„Sie hat dir voll eine reingehauen.“ Auch Ilie teilte das Andenken.
Die Schadenfreude, die gegen Adrian brandete, war in mehrerlei Art rein und gefährlich, so wie ein Kind aus vollkommen nichtsahnenden Motiven heraus grausam sein konnte.
„Das weiß ich nicht mehr“, erwiderte er. Er log nicht.
Ohne dass sie sich dessen bewusst waren hatten Ilie und Helena wieder ein Spiel aus dem gemacht, was Adrian nur für einen Augenblick begonnen hatte, denn jetzt begannen sie unzusammenhängend Rückblicke auszutauschen.
„Ich weiß noch“, erzählte Ilie ohne in der Intonation nennenswerte Schleifen nach oben oder unten zu ziehen, „dass Nevia einmal gesagt hat, Vera und Helena könnten viel Schaden mit Messern anrichten, aber Sneshana kann ihn damit sogar beheben. Sie hat ihr dann einen Kuss auf den Schopf gegeben. Ich glaub, Snezh war damals wieder beleidigt. Sie hatte lange Haare. Ich hab ihr mal dran gezogen.“
„Das war, als sie so viel gelernt hat, oder?“
„Ich hab sie auch mal gefragt, ob ich sie abschneiden darf. Sie hat mir eine reingehauen.“
„Du wolltest dir mein Messer leihen. Ich geb dir mein Messer nicht.“
„Dann hat sie sie selbst abgeschnitten.“
Adrian sandte seiner Familie ein schräg stehendes Lächeln zu und ging. Er wusste nicht, dass sie über ihn gesprochen hatte, als er den Raum betreten hatte. Als er ihn verließ, hatte sie ihre eigenen Zweifel vergessen.
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