„Sei ein verlässlicher, loyaler Freund. Habe offene Augen und Ohren und einen geschlossenen Mund. Begehe keinen Verrat. Ein Ehrenmann hat Mut und Herz. Er weint nicht und beschwert sich nicht im Angesicht eines Ungemachs oder einer Strafe, wenn sie angebracht ist. Zocke nicht, wenn du nicht zahlen kannst.“
Dort stand sie um die große Tafel versammelt, die gesamte Familie mit feierlicher Miene. Und am Tischende, gegenüber des Kopfes, wo Adrian wie ein König aufragte, stand er, sein wildes Aussehen gezügelt, sein ins Braune spielender Leib in manierliche Garderobe gekleidet. Da waren Eindrücke in seinem Blick, die er nicht aussprach, aber alles in allem mutete er ebenso solenn an wie ein jedes erhabene Gesicht unter jedem blonden Schopf, und auch wie Razvan, der einzige unter ihnen, der dunkel war.
„Und zuletzt“, sprach Leon, der den Platz links unmittelbar des Kopfendes hatte, neben Victor und gegenüber von Helena, die beide in einer geschmackvollen Garderobe von tiefer und intensiver, fast schwarzer Farbe mit ungerührten, hochoffiziellen Mienen dort als die zwei neben ihm existierenden Capos harrten, „habe Klasse. Sei unabhängig. Finde dich in der Welt zurecht.“
Es trat ein kurzes Schweigen ein, bei dem niemand wagte ein Wort in die Zeremonie zu sprechen, die ihre ungeschriebenen Regeln längst allen ins Blut getrieben hatte. Dann begann nach einem Atemzug von flachem Klang und tiefer Reichweite Helena mit hoheitlicher Stimme todernst das Manifest der Familie vorzutragen.
„Erstens, niemand stellt sich dem Boss der Familie eigenmächtig vor. Der Kontakt wird über die Vermittlung eines Dritten hergestellt. Dies kann ein Familienmitglied oder ein Partner der Familie sein. Als Ehrenmann bist du Familienmitglied.“
Er musste längst begriffen haben, dass der Begriff der Familie weiter reichte als das, was die Stadt sah, wenn man einen Iorga davon sprechen hörte. Antonia Godarts erregter Augenglanz sagte es ihm. Das stolze, starrende Schweigen der Magistra Sternensang. Levis Fehlen. Der Schwur, den er leisten musste.
„Fünftens, wer sich in der Öffentlichkeit in einer Weise benimmt, die der Familie oder einzelnen Mitgliedern schadet, hat sich vor dem Boss oder dem Familienrat zu verantworten. Sechstens, kein Iorga und kein Ehrenmann tötet ein Familienmitglied oder engen Verbündeten, es sei denn, es wurde im Rat beschlossen. Siebtens. Die Tötung anderer Geschäftspartner oder Rivalen wird im Vorfeld mit den Köpfen der Familie abgesprochen. Achtens, alle Frauen der Familie werden mit Respekt behandelt.“
Der große Lüster tauchte die Gesellschaft in einen goldenen Glanz. Neben Helena stand Veruca, deren Prestige einen Aufschwung erlebt hatte, nun, da ihr Bruder sie anführte. Sneshana linste über den Tisch, wo Alexej auf der anderen Seite ihren Blick in stummer Teilhabe erwiderte. Nikolaj und Florim folgten den Worten, doch kannten sie nicht so gut wie Victor oder Razvan, die sie schon oft gehört hatten. Victor hatte sie bereits selbst einige Male gesprochen. Ilie musste seine Schwester in diesem Augenblick wie eine Fremde vorkommen, eine strenge Schöne unter Schönen, die die Gesetze sprach, über die keiner von ihnen erhaben war.
„Und zwölftens, Gelder, die der Familie gehören, sind sich nicht eigenmächtig anzueignen.“
Als es vorbei war, stach man ihm in den Finger. Er leistete einen Eid auf seine Göttin und die Schale aus weißem Marmor jener handgroßen Steinfigur, die fortan für seinen Platz innerhalb stand, fing einen Tropfen seines Blutes. Zwei Koffer wurden geöffnet, und Helena schenkte ihm einen Prunkdolch mit einem Heft aus hellem Holz, das von goldener Farbe überzogen war, die sich fast bis zur Klingenspitze hinaufschwang, edel und ausgezeichnet, wie auch die Pistole, die Victor ihm mit herber Würde auf die andere Seite legte, indes er ihm kurz und schmerzlos an die Schulter griff.
Er bekam sein eigenes Geschäft, das er für die Familie ausführen würde. Ab jetzt würde er für Victor arbeiten. Als Adrian dies verkündete gab es vielleicht keinen unter ihnen, der über diese Anweisung nicht überrascht war. Nur er, der Betroffene selbst, schien es gewusst zu haben. Und dann verriet Adrian – und ob er selbst sich darüber wunderte oder nicht wurde keinem gewahr – dass es auf des neuen Ehrenmannes eigenen Wunsch geschah.
„Du wirst jetzt mehr verdienen. Aber Victor wirst du deinen Zehnt leisten müssen“, erklärte Leon, als seine Hand schon einen Weis zu Adrian tat. „So wie Victor ihm hier seinen Zehnt leisten wird.“
Als der steife Teil gänzlich vorüber war, schlugen die Gläser aneinander, sie alle tranken was ihnen gefiel – nur die Magistra verzichtete, wie es für sie üblich war – und schlugen dann ausgelassen den Weg über mehrere Gasthäuser hin zum Weißen Lotus ein, den Antonia Godart und Mila Libanez noch in der vergangenen Woche für die Familienfeierlichkeit zu Ehren des neuen Vollmitglieds reserviert hatten.
Helena blieb zurück. Weil sie die einzige aus der Sippe war, die sich dem Zug nicht anschloss, hütete sie Verucas Kind, den kleinen Jungen Viorel, der nicht an sie gewohnt war und ihr viele mühevolle laute Stunden bescherte, bis der plumpe Vito ihn auf die Arme nahm und der Säugling binnen fünf Minuten einschlief.
Gerade erst war ihr das Schreien in den Ohren verklungen und sie kam ins mittlerweile leere Wohnzimmer, als durch die offene Tür zum Garten Mila Libanez trat.
„Keine Lust mitzugehen?“ Sie war zweifellos eine Frau, doch bediente sich mit Vorliebe eines Mienenspiels, das einen dies manchmal fast vergessen ließ. Ebenso zweifellos war sie ein Rüpel.
„Ich sehe mir das nicht an“, sprach Helena. Ihr Kleid hatte sie abgelegt für schlichtes blaues Leinzeug.
Mila musste gesehen haben, dass Helenas Blick, just als sie selbst eingetreten war, zum Garten hinging, denn sie zögerte auf eigenartige Weise und deutete dann über ihre Schulter.
„Wolltest du da raus?“
„Vielleicht.“
„Dich wieder fortschleichen?“
Einen Moment tauber Bestürzung starrte Helena der Fußsoldatin ins Gesicht. Das Wissen, das sie darin erkannte, machte sie sichtlich unruhig.
„Wie ist das gemeint?“, fragte sie umso unnachgiebiger, umso härter.
Mila lächelte wie das unvornehmste Geschöpf, das eine gewisse Traurigkeit empfand, in eine Lage gebracht zu sein, in der sie zwischen Ehrlichkeit und Feigheit eine Entscheidung zu treffen gezwungen war. Sie kam auf Helena zu, die sich im Gegenzug überhaupt nicht bewegte.
„Neulich kam ich spät nachts heim. Ich war noch im Flaschenhals, in der Sackgasse, ist ja auch egal wo noch. Ich leg also meine Sachen ab, als ich im Garten einen schwarzen Schatten seh. Wie ich noch glaub, dass jemand durch das Gitter einsteigt, wird mir auf den zweiten Blick klar, dass es umgekehrt ist und jemand schon wieder auf dem Weg nach draußen ist. Als ich näher hinsehe, erkenn ich im Mondlicht den blonden Lockenschopf. Deinen. Falls das irgendwie unklar war. Ab da hab ich ein bisschen drauf geachtet. Du machst das öfter.“
Helena stand und schwieg beharrlich. Regelrecht zärtlich und verständnisvoll, wäre nicht ihre burschikose Ruppigkeit stärker, nickte Mila ihr mit dem Kinn entgegen.
„Wohin schleichst du dich nachts?“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Ja wirklich? Da hast du natürlich Recht.“ Mila nickte arglos. „Deine Brüder auch nicht? Und Adrian?“
Das antwortende Schweigen war mit Messern der Feindesligkeit bespickt.
„Hör mal, Helena. Ich habe wirklich zu nichts weniger Lust als dazu, dein Geheimnis zu verraten. Aber ich bin in einer ziemlichen Zwickmühle, denn ich will später auch nicht die Gurgel abgedreht bekommen, weil ich was gesehen und nicht gemeldet hab.“
„Das wird keiner rausfinden“, versprach sie.
„Das will ich hoffen. Also hab ich nichts gesehen. Aber du lässt es bleiben. Denn wenn ich es wieder sehe, muss ich es melden. Klar? Das verstehst du doch? Lass es sein, was immer es ist. Klär es ab.“
Sie hätte bestraft werden können, Helena Befehle zu erteilen. Helena hätte sie schlagen können und damit davonkommen. Aber sie wusste wohl, dass es kein Befehl war, sondern ein Ratschlag, dass Mila im Kostüm eines großen Bruders zu ihr sprach und doch kein großer Bruder war, denn von denen, die in diesem Vergleich die Eltern gewesen wären, hatte das Libanez-Mädchen keine Nachsicht zu erwarten, wenn herauskäme, dass sie ihnen etwas verheimlichte.
„Ist gut.“ Es war erst nur ein gedrücktes Murmeln des schmerzlichen Ertapptseins und der Scham, der verdrängten Verzweiflung einer ungeahnten misslichen Lage. Dann im nächsten Moment war Helena wieder groß. „Ist gut. Und jetzt geh und sieh nach dem Mädchen, das im Keller rottet. Vito soll ihr etwas zu Trinken bringen und was vom Essen übrig ist. Und dann verlass das Haus.“
Es bedurfte einer verhältnismäßig großen Menge Opium, sie von ihren unruhigen Gedanken abzulenken.
Kommentare 1