Onkel Razvan

„Veruca, leg die Messer zurück! Die gehören deinem Vater!“
Sie seufzte, aber sie gehorchte. Razvan hatte dieses verachtenswerte Talent, das Gespür dafür zu haben, wann er nicht auftauchten sollte – und genau dann zu erscheinen.
Er war streng, aber sie hatte ihn noch niemals ungerecht erlebt.
„Du weißt, was los ist, wenn er sieht, dass du sie angefasst hast.“
„Bist du neuerdings sein Wächter?“ Sie lächelte zermürbt, ehe sie sich umdrehte.
Da lächelte auch er. Sie wusste, dass sie sein Liebling war, aber manchmal hatte sie das Gefühl, er wäre deshalb nur umso unnachgiebiger mit ihr.
„Vielleicht bin ich dein Wächter. Ich fange jetzt nicht von fremdem Eigentum an. Aber du hast gesehen, was passiert ist, als Adrian sie genommen hat.“
„Das ist über zehn Jahre her. Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Es ist nur eine Geschichte. Außerdem hat er die Messer damals verkauft.“
„Ja richtig, und ich musste sie zurückholen.“ Einen Moment bekam Razvan diesen Blick, als schwelge er in weiter Ferne. Als sehne er sich plötzlich nach Zeiten zurück, die er, wenn er von ihnen sprach, gar nicht als ersehnenswert darstellte. „Das war kein guter Tag. Vor allem nicht für den anderen Mann.“
„Ja, ich weiß. Ich kenn die Geschichte.“
„Was? Woher?“
„Adrian hat sie mir erzählt.“
„Er sollte dir solche Sachen nicht erzählen.“
„Wie gesagt, Onkel. Es ist über zehn Jahre her. Entschuldigst du mich jetzt?“
„Stell aber nichts an.“
Veruca seufzte amüsiert, als sie den Waffenschrank hinter sich ließ, ihrem Onkel im Vorbeigehen noch mit einem Kuss, den sie ihm auf die Wange gab, besänftigte. Draußen warteten zwei Mädchen auf sie. Sie strich sich, als sie um das Haus trat, schuldbewusst das Haar zurück und verzog den Mund.
„Du hast es nicht, oder?“
Antonia Godart stand nicht da wie ein normaler Mensch. Sie hatte die Beine weit auseinander gestreckt, den Oberkörper verbogen und sah Vera kopfüber durch das Loch zwischen ihren Knien entgegen. Daneben stand, ans Haus gelehnt, Sneshana, die eine verpuppte Raupe an der Außenlattung des Daches entdeckt hatte. Sie stupste das längliche Knäuel an und sah ihm zufrieden beim Schaukeln zu.
„Nein. Razvan kam. Ihr kennt doch den alten Detektiv.“
„Hat er dich erwischt?“ Sneshana sah auf. „Gab es Ärger?“
„Er hat mit einer alten Geschichte angefangen. Als Adya elf war, hat er mal zwei von Papas Messern verkauft, weil er deinem Bruder zeigen wollte, wie man Geld macht.“
„Als ob jemand Alesha zeigen müsste, wie man Geld macht.“
„Razvan und seine alten Geschichten.“ Antonia streckte die Arme aus, schlug ein Rad und landete aufrecht auf den Füßen. „Und jetzt? Gehen wir zu Florim und sagen, wir haben sie nicht bekommen? Der lacht uns doch aus.“
„Spinnst du? Ich hab Alesha gesagt, wir kommen mit den Messern! Die Blöße geb ich mir nicht.“
Veruca musterte die anderen beiden Mädchen, Toni, die sich um nichts zu kümmern schien, ihre Großcousine Snezha, die sich von ihrem Bruder nicht blamieren wollte. Sie wollte es auch nicht. Sie hatten den Jungs gesagt, sie könnten Nicolaes Messer besorgen, es war eine Mutprobe, und keine, zu denen ihnen der Schneid fehlte. Aber wer hätte damit rechnen können, dass Razvan ausgerechnet im entscheidenden Augenblick auftauchte? Sie. Eigentlich sie. Sie kannte ihn doch.
„Kannst du nicht deinen Bruder fragen?“
Veruca warf Toni einen missbilligenden Blick zu.
„Wenn du einen Grund suchst, mit ihm zu reden, frag du ihn doch. Wir brauchen ihn nicht. Wir können das selbst.“
Toni zuckte mit den Schultern. Dann schlug sie noch ein Rad.
„Warum mischen sich die Alten eigentlich immer ein?“, rief Sneshana ärgerlich, als sie sich von der Wand abstieß, und wieder einmal zeigte Razvan, dass er ein Mann war, der einen Kompass in sich trug, um immer dort zu sein, wo er etwas aufschnappen konnte, das andere lieber vor ihm geheim gehalten hätten.
„Weil ein paar sechzehnjährige Mädchen nichts mit Nicolaes Messern verloren haben“, antwortete er und erschreckte alle drei Mädchen ordentlich, als er um das Haus trat. Von ihnen Dreien fing nur Toni danach an zu lachen.
„Stehlen, Sneshana. Lernt man sowas auf der Mädchenschule?“
„Du würdest dich wundern, was man da alles lernt.“
Während Razvan und Sneshana noch sprachen und Antonia nichts Besseres zu tun hatte, als sich aus Langeweile in seltsame Posen zu verbiegen als hätte sie keine Knochen im Leib, begann sich ein Faden von Unzufriedenheit durch Verucas Miene zu ziehen.
„Raz, warum folgst du uns? Hat er gesagt, du sollst uns bewachen?“
„Wer?“
„Na wer wohl?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
Er wusste es. Er wusste es genau. Und es ärgerte sie. Anders als Toni, die gluckste.
„Wahrscheinlich hat er es deinem Vater noch selbst angeboten.“
„Also Mädchen, ich bin empört über diese Unterstellung. Ich wollte nur gerade um das Haus gehen bei dem schönen Wetter.“
Er war ein besserer Lügner. Und deshalb wusste Vera, dass er es nicht einmal versuchte, auch schon ehe er Vera zulächelte und sein Tonfall weich wurde.
„Wofür braucht ihr die Messer denn?“
Vera wollte es nicht sagen. Ihre Augen rollten nach oben, auf der Suche nach einer Ausflucht, als Sneshana bereits antwortete.
„Den Jungs zeigen, dass nicht nur sie ein paar Messer auftreiben können.“
Razvans Miene war wieder ernst.
„Welchen Jungs?“
„Florim. Alesha. Javier Libanez.“
„Zu sowas stiften die euch an.“ Es war keine Frage. Er hatte sich eine Gedankennotiz gemacht und sich dafür eines Tonfalles bedient, der Veruca einen strafenden Blick zu Sneshana entsenden ließ, die nur achtlos die Lippen schürzte.
„Ich werde mich wohl mal mit den Burschen niedersetzen müssen und ihnen etwas erklären.“
„Ich glaub nicht, dass die das hören wollen“, kam Tonis Stimme von irgendwo unten.
„Aber vorher kommt ihr Mädchen mit mir mit.“
„Onkel Raz. Bitte.“
„Nein, keine Widerrede, Vera.“
„Wir wollen-“
„Den Älteren wird nicht widersprochen.“
„Da hast du es“, war die stumme Anklage in Veras Blick zu Sneshana, als sie sich als erste dem schwarzhaarigen Mann nachwandte.
„Warum sollen wir mit?“, rebellierte die im Hintergrund. Und Antonia murmelte ihr beklommen zu: „Also zu Nicolae geh ich aber nicht.“
„Weil, junge Damen, nicht nur Veras Vater ein ausgezeichnetes Sortiment an schönen Klingen hat. Und da ihr mir schon die Beleidigung angetan habt, nicht gleich zu mir zu kommen, erteilt mir wenigstens die Ehre, euch aus eurer Notlage zu befreien. Niemandem wird der Triumph gegönnt, zu behaupten, meine Vera sei nicht imstande ein Messer aufzutreiben. Und schon gar nicht diesen Halbstarken. Aber sagt es nicht Nevia.“
Veruca warf noch einmal einen Blick zurück zu ihrer Cousine und Toni. Diesmal glänzte er vor Begeisterung.

Kommentare 7

  • Awww! Und das, obwohl kein Pferd im Spiel ist!

  • Das freut mich wirklich sehr. =) Vielen Dank.

  • Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme umd das hier zu kommentieren .__.


    Ich bin sprachlos, muss ich ehrlich sagen. Echt schön geschrieben und toll, dass der olle Kautz am Ende doch den Tag für die Mädels rettet ! :D

  • <3

  • Danke euch =)
    Malen kann ich euch ja leider nicht.

  • ach gott...ich kann mir das so bildlich vorstellen, dass ganze Szenario. Richtig toll und die Chars! Ich bin auch begeistert wie gut du Vera umgesetzt hast. Danke!

  • Sehr gelungen. Zu Toni hab ich dir ja schon was geschrieben. Aber pro forma, auch sehr gelungen. Lustig, denn ich hatte mir so KONKRET nicht überlegt wie sie wohl wäre. Jetzt da ich es aber lese, wie du es dir vorstellst, gefällt es mir sehr.