„Du solltest heiraten.“
„Was?“ Der Ausspruch kam so unerwartet, dass Alisar vollkommen perplex auf den kupferblonden Zopf starrte, den sie gerade aufwändig flocht.
„Na heiraten!“ Lynn wandte sich halb um, um der Älteren einen skeptischen Blick zuzuwerfen, so anklagend wie es wirklich nur eine Siebenjährige konnte: „Du weißt doch was das ist, oder?“
„Natürlich weiß ich, was das ist.“ erwiderte das Schwarzhaar ungeduldig und ließ die Hände sinken. Mit Verzückung beobachtete sie, wie Lynn’s streng zurückgekämmte Locken sich sofort aus dem Zopf befreiten und sich störrisch ringelten: „Aber wie kommst du jetzt darauf?“
„Na…“ Lynn, befreit von der Last des Still Haltens, drehte sich nun ganz um Alisar direkt ansehen zu können: „…bald bist du alt, Lis. Und dann will dich keiner mehr.“
„Ich bin achtzehn!“
„Bald nichtmehr.“
„Ja und? Dann bin ich neunzehn.“
„Eben!“
Alisar blinzelte. Das Mädchen, das ihr gegenüber saß war von der Logik ihrer Worte vollkommen überzeugt. So sah Alisar sich jetzt der Ungnade in veilchenblauen Augen ausgesetzt und, das war viel schlimmer, ungerecht behandelt. Gerade als sie den Mund öffnete um Lynn zurechtzuweisen, …oder sich zu rechtfertigen, was wahrscheinlicher war, fiel die Kleine ihr wieder ins Wort.
„Warum willst du nicht heiraten?“ fragte Lynn, die sich sicher war, das Problem erkannt zu haben. Die kleine Hand hob sich um an Alisar’s schwarzem Haar zu zupfen: „Du bist doch noch ganz hübsch.“ Das klang, als würde sich das in den nächsten Monaten radikal ändern: „Vielleicht solltest du die Haare wachsen lassen. Männer mögen sowas. Dann findest du bestimmt einen.“ Jetzt war es aber genug.
„Lynn, ich habe einen Mann!“ schnaubte die Ältere und lehnte sich zurück um der prüfenden Kinderhand ihre Haare zu entziehen: „Ich könnte sogar meh…“ – „Oh wirklich?“ unversehens, und ohne sich um alles Weitere zu kümmern, war das Kupferlöckchen ihr quirlig auf den Schoß gesprungen: „Erzähl mir von ihm!“ forderte sie und sah erwartungsvoll zu ihr auf. Sommersprossen! Alisar war von dem Anblick so eingenommen, dass sie die Unterhaltung für den Augenblick vergaß. Wunderhübsche, kleine Punkte in übermäßiger Anzahl hoben sich deutlich von der elfenbeinfarbenen Haut ab. Wie oft hatte sie sich schon dabei ertappt sie zu zählen. Fünfzehn, sechzehn, …siebzehn…
„Liiiis!“ Lynn schüttelte sich, dass die Locken nur so flogen und jeder Zählversuch zunichte gemacht wurde: „Du bist so komisch manchmal.“
„Hmpf.“
„Also? Wie ist er so?“
„Er…“ Alisar stockte. Was könnte man einer Siebenjährigen schon von diesem Mann erzählen? Prüfend nahmen ihre Augen Maß, dann seufzte sie leise und ließ sich nach hinten auf die Decke fallen um unbestimmt in den blauen Himmel hinaufstarren zu können: „Er hat eine große Familie.“
„Wirklich? Sind die lieb?“ Lynn positionierte sich neu, saß nun auf Alisar’s Bauch und sah hochherrschaftlich auf sie herab, als sei das Schwarzhaar erlegtes Wild. Bei einem anderen Thema wäre Lis zum Lächeln zumute gewesen bei dem Anblick: „Hm… wie man’s nimmt.“
„Und er? Ist er toll?“
„Hm.“
„Heißt das ja oder nein?“
Unbestimmt hob Alisar die Schultern an und richtete die Augen wieder auf das schmale, zierliche Gesicht. Die beiden Mädchen waren so unterschiedlich, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die eine dunkel, jetzt noch mehr, da die Sonne der letzten Tage die Haut gebräunt hatte. Das Haar kurz und schwarz. Nicht sattschwarz, eher ein Anthrazit-Ton. Sie war hochgewachsen und das götterfelser Leben hatte sie einschlägig geprägt. Nichts an Lis wirkte weich oder zerbrechlich. Zähe Muskeln prägten das Bild und selbst in dem Gesicht hatte sich Härte niedergeschlagen.
Lynn hingegen war mit ihren sieben kaum mehr als ein flatterhafter Kolibri. Zart und feingliedrig, das Näschen spitz und voller Sommersprossen. Die Haut war so blass, dass man unweigerlich das Gefühl hatte, man könne die Knochen hindurch schimmern sehen. Locken hatten sie beide, aber während die eine das gut zu verbergen wusste sprangen sie bei Lynn kupferfarben und ungezähmt um das schmale Gesicht.
„Ach, du bist doof.“ urteilte die Kleine zutiefst unzufrieden: „Sieht er gut aus?
„Hm.“ Alisar schloss die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beschloss es einfach über sich ergehen zu lassen.
„Wie alt ist er?“
Und schon öffnete sich ein Auge wieder, damit Lis zu dem Mädchen hinauf blinzeln konnte. Jetzt zuckten ihre Mundwinkel doch: „Vierundfünfzig.“
Stille. Lynn starrte fassungslos hinab, öffnete den Mund zu einem verständnislosen „Oh.“, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und machte ihn dann doch wieder zu, als ihr nichts einfallen wollte das sie dazu sagen konnte. Alisar musste grinsen, ließ das Auge wieder zuklappen und aalte sich in ihrem flüchtigen Triumph.
„Aber … aber er ist ein guter Mann, oder?“ Etwas in dem zarten Stimmchen ließ ihr Grinsen gefrieren. Sorge, Angst, …Unsicherheit, einem Wissen entsprungen, dass man so einem jungen Geschöpf niemals hätte zumuten dürfen. Dabei galt Lynn’s Sorge nicht sich selbst. Sie war sicher und gut verborgen, die Ältere verschwieg ihre Existenz gewissenhaft und aus vollster Berechnung. Um nichts in der Welt würde sie zulassen, dass Götterfels‘ Verderbnis ihre Finger nach dieser Kleinen ausstrecken konnte.
„Sag, dass es ein guter Mann ist!“ wiederholte Lynn und es lag das Begreifen schon in der Stimme. Ebenso wie etwas anderes. Etwas, das gerade einen Riss bekam. Ein Traum… Eine Hoffnung auf ein anderes Leben. Enttäuschung. Alisar’s Augen blieben geschlossen. Sie wollte diesen Blick nicht sehen. Keine Lügen, dass hatte sie der Kleinen einmal versprochen. Aber die Wahrheit kam ihr ebenso wenig über die Lippen. Also schwieg sie.
„Aber er wird mich mögen, nicht? Wenn du mich holen kommst… Er wird mich doch ganz bestimmt mögen. Ich werd auch ganz lieb sein.“ Der letzte Strohhalm. Lis konnte nicht anders als mit beiden Händen nach der Hüfte der Kleinen zu greifen und sie etwas nach unten zu schieben, damit sie sich aufsetzen konnte. Für das was jetzt kam wollte sie das Mädchen in die Arme schließen, deren veilchenblaue Augen sich bereits mit Tränen gefüllt hatten. Alisar zog sie an sich, vergrub ihre Finger in der seidigen Mähne und lehnte das kleine Köpfchen an die eigene, grobe Schulter: „Er ist kein guter Mann.“ beantworte sie dann flüsternd all diese Fragen mit einem einzigen Satz und lauschte andächtig und mit tiefstem Bedauern auf das Klirren, mit dem Lynn’s letzter Rest Hoffnung zersprang. Hätte Lis noch Tränen, vielleicht hätte sie mit der Kleinen geweint, die nun von lautem Schluchzen geschüttelt wurde. Aber das konnte sie nicht, also blieb ihr nichts weiteres, als Lynn zu halten. Gern hätte sie ihr beruhigende Worte zugemurmelt, aber … keine Lügen. Sie fühlte sich ungenügend, aber zu trösten hatte sie niemals gelernt.
„Du hast es versprochen.“ brachte der kleine Kolibri mit ersticktem Stimmchen hervor: „Du hast versprochen, du holst mich, wenn du alle bösen Männer weggemacht hast.“ – „Ich weiß.“ aber wie sollte sie das anstellen? Wo sollte sie anfangen? Sie hätte Götterfels entvölkern müssen um dieses Versprechen zu halten: „Du willst mich gar nicht haben.“ Lynn klagte freimütig an, getrieben von Verzweiflung und Trauer. Alisar wusste, wie es sich anfühlte jeden Halt zu verlieren. Sie hätte diese Kleine gerne vor einer solchen Erfahrung bewahrt, aber die Wahrheit war, dass es stimmte. Lynn nach Götterfels zu holen… nein, im Leben nicht würde sie ihren kleinen Kolibri in solch einen Käfig sperren. Sie wollte sie frei wissen und unbedarft. Ohne Zwänge und ohne viel zu viele von all den Erkenntnissen, die man ihr in der Stadt unweigerlich antuen würde. Sie wollte ihr ein Leben ermöglichen, dass sie selbst nicht mehr führen konnte, ahnungslos, aber unangetastet. Und rein.
Minuten vergingen, in denen Alisar nichts anderes blieb, als das Mädchen zu halten. Tränen netzten ihr Hemd. „Weißt du was?“ brachte die Kleine schließlich stockend hervor: „Dann will ich dich jetzt auch nicht mehr.“ Das zarte Wesen striff die Arme von sich ab, kämpfte sich frei und wusste sehr genau um den Schnitt, den sie Alisar mit voller Absicht zufügte. Kluges, kleines Ding, wie sie sich nun aufrichtete und trotzig auf Lis herabstarrte: „Und lieb hab ich dich auch nicht!“ setzte sie nach: „Du … du bist genau wie alle anderen!“ – „Hmhm.“ Keine Lügen. Lynn wandte sich um und rannte davon, durch das hohe Gras zurück nach Hause, wo Menschen dafür bezahlt wurden, ihr ein perfektes Heim zu bieten. Alisar ließ sie ziehen. Lynn würde bedauern. Später würde sie sich für diese Worte entschuldigen, würde sagen, dass es ihr leid tat, aber sie hatte recht. Das Mädchen auf der Decke sah ihr nicht nach. Die Worte waren es, die sie hätten verletzen sollen, mehr noch traf sie aber das Wissen, dass es nicht Götterfels war, vor dem sie Lynn so zwingend beschützen wollte. Wieder hob sie den Blick hinauf in den klaren, wolkenlosen Himmel. Nun also waren die letzten Karten aufgedeckt und sie waren so leer wie sie sich fühlte. Es gab niemanden hier der sie verurteilte. Manchmal wünschte sie sich, jemand würde es tun.
Lynn hatte recht. Aber wie… Wie sollte sie diesem zarten, wundervollen Wesen begreiflich machen, dass niemand anderes als sie selbst es war aus der die Stadt über die Jahre etwas geformt hatte, neben dem Reinheit und Unschuld, alles, was sie an Lynn so sehnlich zu bewahren wünschte, unweigerlich zugrunde gehen musste?
Gar nicht. Niemals! So beschloss sie das gerade. Denn wie viel würde Alisar verlieren, wenn es niemanden mehr gab, den sie derart vorbehaltlos lieben konnte?
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