Jugendschutz-Spoiler
Der Tag war vorangeschritten als irgendetwas sie aus ihrem unsicheren Schlaf riss. Sie hatte sich gegen die Kälte an den schweren Pferdeleib geschmiegt, aber nun, nach Stunden, war auch diesem langsam die Wärme abhanden gekommen. Lynn fror, dabei hatte der Regen lange aufgehört. Aber die Luft blieb feucht, so dass der Stoff auf der Haut nicht trocken wurde und kalt und klamm an ihrer Haut klebte. Ihr war übel, irgendetwas stimmte nicht. Mit ihr nicht, ...und mit der Lichtung auch nicht. War ihr also doch jemand gefolgt?
Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ein leises Summen schien die Luft zu erfüllen. Ein wohlvertrautes Geräusch, welches sie immer dann vernahm, wenn all ihre Sinne sich schärften, die Muskeln sich spannten und jene ungeschulte Kraft in ihr sich darauf einstellte genutzt zu werden um das Gefäß, das Mädchen, dem sie innewohnte, zu verteidigen. Ein schmatzendes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit und lenkte ihre Augen zu eben jenem Pfad, auf dem sie selbst erst vor wenigen Stunden gekommen war. Dann ein Schnauben.
Denk nach, Mädchen! Denk nach! Nein. Zum Denken war keine Zeit. Handeln, und zwar gleich. Die Situation zu erfassen kostete den scharfen Verstand nur Sekunden. Der Hengst war keine geeignete Deckung, der Revolver lag nutzlos in einer Pfütze, und andere Waffen? ...sie brauchte keine Waffen. Über den reglosen Pferdeleib glitt sie, ließ die Satteltasche liegen, und profitierte ein weiteres Mal davon die Lautlosigkeit perfektioniert zu haben. Es hatte nie einen Lehrmeister gegeben, der sie in magischen Künsten geschult hatte, aber wenn nicht bemerkt zu werden lebensnotwendig war, dann griff man schließlich auf alles zurück, was man hatte. Adrenalin schaltete zielgerichtet alles aus, was dem Überleben im Weg stand. Die Kälte, den Hunger, die Erschöpfung, auch die Übelkeit. Wer sie lächeln und schäkern sah mochte glauben durchschaut zu haben, worin ihre Stärken lagen, aber die Wahrheit war: Jetzt gerade war sie ganz in ihrem Element. Wann war man lebendiger als kurz vor einem anstehenden Kampf? Oder in dem Augenblick in dem man ein Leben nahm? Im Bett vielleicht, mit dem richtigen Mann, aber der war gerade nicht da. Hierfür braucht sie ihn nicht. Sie war ganz und gar sie selbst als sie Ast um Ast den Weg nach oben nahm, dicht an dem massigen Stamm um sich nicht durch raschelnde Äste zu verraten. Obwohl sie wirklich nicht viel Zeit hatte kam es ihr mehr als ausreichend vor, bis sie sich einen guten Platz gesucht hatte. Also duckte sie sich nun und lauerte.
Schon bevor der Reiter auf die Lichtung kam hatte sie das Pferd ausgemacht. Ein einziges nur. Der Boden war so matschig und vom Regen aufgeweicht, das die Hufe einsanken und immer wieder schmatzend aus dem Dreck gezogen werden mussten. Ein schlichter Brauner war es, der letztlich zwischen den Bäumen auftauchte. Und auf seinem Rücken saß ein Mann im braunen Ledermantel. Er trug einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, der ihn zweifellos vor dem Regen hatte schützen sollen, aber genau genommen sah der Kerl da unten nicht weniger abgerissen aus als sie selbst. Von hier oben konnte sie sein Gesicht nicht ausmachen, aber das war auch nicht notwendig. "Lynn?" rief der Kerl, während er sich aus dem Sattel schwang, den Fokus auf die beiden Tierkadaver gerichtet: "Lynn! Mädchen, wenn du mich umsonst hier raus gelockt hast..."
"Greg!" von oben hörte man ein heiteres Lachen. Natürlich Greg, wer denn auch sonst? Sie hätte es wissen müssen. Ihren Postem gab sie auf und schien sich reichlich albern vorzukommen, als sie sich wieder aufrichtete: "Was machst du denn da oben?" Die rauhe Stimme ließ durchklingen, dass er das ganz genau so sah. Ach Greg. Wie wundervoll dieses Summen klang, sie liebte diesen Ton. Und er konnte nicht ahnen, wie sehr sie jetzt schon amüsierte, dass er ihn nicht vernahm, als sie wieder hinabkletterte. Laut platschten ihre Füße, als sie die letzten zwei Meter sprang und, wie könnte es auch anders sein, in einer knöcheltiefen Pfütze landete. Aber das nahm ihr jetzt auch nichtmehr ihre Würde, als sie die schmutzigen, moosigen Hände an der Hose abwischte und an Greg herantrat.
"Du siehst nicht gut aus." sprach der Kerl. Er überragte sie, jedoch nur um ein paar Zentimeter. Graue Augen unterzogen ihren sehnigen Leib einer kurzen Musterung, dann zog er kurzerhand den Mantel aus und legte ihn ihr über die Schultern. Dabei nickte er zu Arkyn und Donas hin: "Sag mal, findest du das nicht ein bißchen drastisch?" - "Hm?" Lynn hielt inne den Mantel zurecht zu zupfen um seinem Wink mit dem Blick zu folgen. Leidenschaftslos betrachtete sie die beiden ehemaligen Weggefährten. Da war kein Stich von Trauer. Sie hatten ihr etwas bedeutet, ohne Zweifel. Aber von all dem, was je einen Wert für sie gehabt hatte waren jetzt nur noch leere Hüllen geblieben. Nichts, das Zuneigung verdient hätte: "Es ist konsequent. Hast du etwas zu essen dabei?" Greg seufzte, weil ihre Füße sie bereits zum geduldig wartenden Brauen führten. Kurz nur striff sie ihm über das zottige Fell, dann wollte sie nach der Satteltasche greifen, aber resolut schob der Kerl sie beiseite. Seine Satteltasche, seine Regeln. Alles klar. Also sah sie ihm schlicht dabei zu, wie er die klimpernden Schnallen löste und hinein griff, nur um ihr dann einen Apfel zu reichen: "Und wie kommst du jetzt wieder von hier weg?" Das Mädchen war dermaßen hungrig, dass sie den Apfel nahm und direkt hinbiss. Und weil es keinen Grund gab auf ihr Benehmen zu achten, gab sie mit vollem Mund zurück: "Ich dachte an dein Pferd. Hast du, was ich brauche?"
Greg warf dem Braunen einen berechnenden Blick zu, als wolle er abschätzen wieviel Gewicht der wohl vertragen könnte, kam aber schließlich zu dem Schluss, dass es für zwei reichen müsste, also griff er abermals in die Tasche und zog eine lederne Mappe heraus. Er klappte sie auf als wolle er den Inhalt selbst nochmal prüfen, erst dann reichte er sie weiter: "Es ist alles da." - "Hmhm." gab sie zurück, noch immer kauend und überzeugte sich selbst. Das ein oder andere Dokument überflog sie flüchtig, bis ein Name sie innehalten ließ: "Das ist ein Witz. Wer hat sich den denn einfallen lassen?" Gregs schüchternes Lächeln machte jede Antwort überflüssig. Sie seufzte: "Der Notar?" - "Alles geregelt." - "Und die Bank?" - "Die Konten sind eingerichtet und die Münzen transferiert." Das Mädchen warf den Rest des Apfels achtlos weg und schloss die Mappe wieder: "Meine Klamotten?" - "Liegen auf dem Zimmer im Gasthaus, wie du es gesagt hast." Sehr gut. "Und wer weiß alles davon?" sprach Lynn, als sie dem Mann die Mappe wieder hinhielt und ihm dann dabei zusah, wie er sich abwandte, um die Mappe zurück in die Satteltasche zu stecken: "Na ich, Ben und Owen. Mach dir keine Sorgen, die können schwei..."
Ein überraschtes Keuchen beendete den Satz, als ein unbestimmter Schmerz im rechten Knie ihm das Standbein einknicken ließ. Der Braune scheute, tänzelte zwei Schritte zur Seite und nahm dem Mann jeden Halt. Plötzlich auf den Knien überragte er sie nichtmehr: "Scheiße, wa..." Das Mädchen griff seinen Kopf schneller, als er nach seiner lächerlichen Pistole greifen konnte und ließ sich mit dem ganzen Gewicht fallen, um seinen Kopf auf den Boden zu schmettern. In Götterfels hätte das womöglich schon gereicht, wo kluge Menschen den Boden gepflastert hatten. Aber hier auf dem matschigen Untergrund... Dreckige, widerliche Wildnis. Der Hut fiel, als eine Wurzel dem Mann die Nase brach. Er schrie. Menschen waren erstaunlich robust, wenn es darum ging sie zu töten. Kläglich hallten Schmerz, Überraschung und Fassungslosigkeit über die Lichtung, begleitet von dem widerlich dumpfen Ton mit dem sein Kopf wieder und wieder auf die Wurzel geschlagen wurde. Der gebrochenen Nase folgte das Jochbein, dann der Kiefer - mehrmals - und die durchweichte Rinde war mit klebrigem Rot überzogen, lange bevor die schrillen Schreie erst zu einem Wimmern und dann zu einem Ächzen verkommen waren, bis schließlich nur ein zuckender Leib unter dem Mädchen lag. Ein Mann hätte sich mehr gewehrt. Dieser hier war kein Mann. Er war Bürokrat.
Lynn keuchte. Ihr Atem ging schneller und ihre Arme zitterten, als sie umständlich wieder auf die Beine kam. Das Blut rauschte durch ihre Adern und es war wahr: Wann fühlte man sich lebendiger, als wenn man jemandem das Leben nahm? Zwar, und sie empfand Bedauern darüber, war Greg nicht wirklich ein Gegner gewesen, aber das hielt sie nicht davon ab ihm abschließend und mit Kraft ins Genick zu treten, zufrieden darauf lauschend, wie es brach. Es war langweilig. Es war ... berauschend. Es war so grandios, dass sie nicht an sich halten konnte und lachte. Sie lachte dem Wahnsinn und all dem Tod um sich herum entgegen, bis ein widerlicher Krampf im Unterleib sie von den Füßen riss und sie schließlich neben dem Toten im blutigen Dreck lag und sich erbärmlich würgend übergab.
Es war Nacht geworden, als sie das Gasthaus betrat. Miefige Gestalten lungerten hier herum für die das Mädchen keine Aufmerksamkeit übrig hatte. Alles was sie wollte war eine Schüssel zum waschen, saubere Klamotten, eine warme Mahlzeit und ein Bett. Den Hut, Greg's Hut, hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen, obwohl das gar nicht notwendig war, wenn die beiden Haarklammern denn brav ihren Dienst verrichteten. Eine davon verschleierte ihre Signatur. Sie wollte nicht, dass jemand ihr auf magischem Wege folgen konnte. Die andere verschleierte ihr Äußeres. Sicher, manch einer würde die Maskerade durchschauen, aber wie wahrscheinlich war es, dass ein solcher Jemand sich in dieser Spelunke aufhielt, fern ab der üblichen Handelsrouten? Flüchtig überflog sie die stumpfen Gesichter der Anwesenden, dann schob sie den Hut etwas aufwärts und lächelte dem Wirt entgegen wie sie es zu Hause vor dem Spiegel geübt hatte. Blass war sie noch immer und sie überging verbissen die anhaltenden Schmerzen, mit denen ihr Leib ihr sagen wollte, dass er begann sich auf etwas einzustellen, das man ihr vor Jahren hatte nehmen wollen: "n'Abend." grüßte sie: "Ich hab hier 'n Zimmer. Ich bin Sophia. Sophia Morgan."
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