Raus aus der Stadt. Das Bedürfnis danach verspürte sie nur selten. Eigentlich nie. Es war nicht die Stadt, die sie vertrieb. Es war nicht die Stadt, die ihr die Luft zum atmen nahm. Es war nicht die Stadt, die ihr den Schlaf raubte und von der zu befreien ihr mehr und mehr ein schmerzhaftes Bedürfnis wurde. In Lynn's Augen war Götterfels ein verdorbenes Fleckchen Erde. Hübsch herausgeputzt, fein geschmückt, auf Hochglanz poliert. Aber sah man hinter die Fassade, dann bröckelte der Mörtel nur allzu schnell. Unkraut, in die feinsten Stoffe gehüllt, spross aus jeder Fuge und der schimmelige Gestank von Selbsherrlichkeit und Korruption überzog ausnahmslos alles. Loyalität gehörte dem Meistbietenden und die Wahrheit war zu einer billigen Hure verkommen, die für Macht und Prestige tagtäglich in den herrlichsten Hallen und in den schmutzigsten Gassen die Beine breit machte. Lynn war ein Kind dieser Stadt, ein Geschöpf dieser Stadt. Sie liebte Götterfels. Diese Stadt war ihr Garten Eden. Nein, sie war es nicht, die das Mädchen vertrieb.
Was sie vertrieb waren Hoffnungen, Träume, ...all die Dinge, die man in junge Herzen sähte nur um dann dabei zuzusehen, wie all dies in unerfüllte Erwartungen umschlug und zu Enttäuschung wurde. Schließlich kam nach der Enttäuschung das Erwachen, welches nichts übrig ließ außer desillusionierter Geister. Entromantisierte Wesen, entweder gebrochen, kalt oder zornig. Generation um Generation zog man in Götterfels Täter oder Opfer heran und im Leben eines Jeden kam irgendwann der Moment, an dem man sich für das eine oder das andere entscheiden musste.
Lynn hatte sich entschieden. Sie war sich sicher entschieden zu haben, aber nun gerade musste sie begreifen, dass Hoffnungen und Träume wie Unkraut waren, gegen die es kein geeignetes Gift gab. Sie hatte geglaubt diese zähen Pflänzchen wären längst an der Wurzel gepackt und herrausgerissen worden, was für ein glorreicher Irrtum. Jetzt erkannte sie, dass sie noch immer eines dieser jungen, lebenshungrigen Dinger war, die sich entgegen jeden besseren Wissens an Trugbilder klammerten und Sehnsüchte in sich bargen für die es in Götterfels keine Erfüllung gab. Und obwohl es gar keinen wirklichen Kampf gegeben hatte fühlte sie sich besiegt. Nicht von Jemandem, von Etwas, und dafür die Schuld bei einem anderen zu suchen war nicht nur feige, ...es war schwach. Sie hätte sofort einen Namen nennen können. Zwei, drei, vier und mehr sogar, aber letztlich kam nur ihr eigener in Frage. Lynn hatte sich selbst zu Boden gerungen. Eine bittere Pille, ...aber das Mädchen war nicht dumm genug sie nicht zu schlucken.
Doch es hatte auch sein Gutes, denn nun stand sie auf ein Neues vor der Wahl. Täter oder Opfer. Täter oder Opfer. Täter oder... nein. NEIN! Es war gar keine Frage, denn es gab nur eine einzige Option. "Irgendwann knickt jeder ein." Kolja's Worte waren das gewesen. Vor Monaten schon und von seinen Lippen hatten sie sich angehört wie ein gut gemeinter, freundschaftlicher Rat. Irgendwann knickt jeder ein... "Ach, fick dich Iorga. Du nicht!"
Noch auf dem Weg zu ihrem Ziel straffte Lynn die Schultern, richtete den Rücken gerade auf und trieb dem schwarzen Hengst die Fersen in die Flanken. Zwei oder drei Tage. Zeit genug sich Gedanken zu machen. Zeit genug Entscheidungen zu treffen. Zeit genug sich vorzubereiten. Götterfels, was für ein Haufen Scheiße. Sie würde dieses Drecksloch vermissen.
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