Jugendschutz-Spoiler
Elend. Anders konnte Lynn ihren Zustand nicht beschreiben. Sie hatte versucht in dieser Nacht zu schlafen, aber das Geschehen in jener unsäglichen Höhle hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Was genau geschehen war wüsste sie heute kaum noch zu berichten. Widerliche Fratzen, grün leuchtende Augen und ... Schmerzen. Angst. Vage erinnerte sie sich daran geschrien zu haben, geweint zu haben, und statt sich jetzt befreit zu fühlen, wie sie es eigentlich erwartet hatte, spähte das Mädchen alle paar Minuten über die Schulter, denn das Gefühl verfolgt zu werden ließ sie nicht los. Vielleicht wurde sie es tatsächlich. Ihr Instinkt irrte sich selten. Aber in all den Dingen die sich in den letzten Tagen abgespielt hatten, wäre das zweifellos nicht das Einzige, das durcheinander geraten war.
Jetzt saß sie kraftlos auf dem Rücken ihres schwarzen Hengstes und mühte sich vergeblich darum aufrecht zu bleiben. Lynn musste sich zusammenreißen. Alles, was nun vor ihr lag hatte sie genau geplant, war es immer und immer wieder durchgegangen. Es musste funktionieren. Löwenstein lag bereits einige Kilometer hinter ihr als der Morgen zu dämmern begann und Regen mit sich brachte, der nun in dichten Fäden auf sie hinab prasselte, so dass ihre Kleidung binnen weniger Sekunden vollkommen durchweicht war. Zu ihrer Stimmung mochte das passen, ...jedoch nicht zu ihrem Vorhaben. Irgendwann unterwegs hatte sie ihren kleinen Seesack einfach fallen lassen, den Proviant herausgenommen, sowie das kleine Holzkistchen, in dem sich nicht weiter befand als zwei lächerlich gewöhnliche Haarnadeln. Es mussten Haarnadeln sein, etwas, dass sich gut verbergen ließ, kein protziger Schmuck. Und doch hatten diese beiden wertlos aussehenden Metallklammern sie ein kleines Vermögen gekostet. Wichtig waren sie. Jetzt noch nicht, aber sie würden es werden. Bald. Schon sehr bald.
Der Hund, Arkyn, trottete entmutigt neben ihr her. Zu Beginn hatte ihm dieser Ausflug Spaß gemacht, aber jetzt hing das dichte weiße Fell zottig und tropfend an ihm hinab. Er hatte sein Interesse an der Landschaft verloren und beschränkte sich nun darauf einfach nicht zurück zu fallen. Arkyn, diese gute treue Seele. Wie den Seesack würde sie auch ihn fallen lassen, denn am Ende ihrer Reise wartete ein neues Leben auf sie. Und sie wollte nichts aus ihrem altem Leben dorthin mitnehmen. Nichts, abgesehen von 4 Dingen. Drei davon trug sie am Leib. Und weil ihr das gerade wieder in den Sinn kam, sah sie hinab und ballte die Rechte zur Faust um den Ring zu betrachten. Sie hatte ihn verlassen. Ein schmales Lächeln umspielte die farblosen Lippen. Hatte sie nicht. Aber sie hatte das Richtige getan. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Früher oder später würde das Wissen auch zu einem Fühlen werden. Aber gerade fühlte sie nichts. Bis auf... Wieder ein Blick über die Schulter. Unmöglich, nein. Niemand war dort hinter ihr. Das Mädchen fröstelte.
Ein trauriges Bild gaben sie ab, diese drei Gestalten. Der tropfende Hund, der müde Hengst, und die blasse Flüchtende. Sie hätte sich und ihren beiden Begleitern gerne eine Pause gegönnt. Sie würden sich gleich erholen können. Ja, als sie dem schwarzen Donas mit einem leichten Drehen des Körpers zu verstehen gab, dass es Zeit war die matschige, ausgetretene Straße zu verlassen, da empfand sie fast einen inneren Frieden bei dem Gedanken daran, dass es in naher Zukunft keine Pflichten mehr geben würde, die diese Beiden zu erfüllen hatten. Und auch das war richtig so. Sie trieb Donas um das kleine Wäldchen herum. Zweimal, denn erst dann fiel ihr die kleine Felsformation auf, die sie nur aus Beschreibungen kannte. Und ohne sie hätte sie den richtigen Trampelpfad niemals gefunden, der sie zwischen den Sträuchern und Bäumen hindurchlotste, bis hin zu einer winzigen, sumpfigen Lichtung, auf der, wie versprochen, ein kleiner Tümpel auf sie wartete. Kraftlos rutschte sie aus dem Sattel, jegliche Eleganz war Lynn an diesem Tage abhanden gekommen. Aber sie erinnerte sich daran, die Zügel fest um einen niedrigen Ast zu binden. Noch etwas, das wichtig werden würde. Gleich.
Und doch hatte sie beruhigende, belohnende Worte für beide übrig, als sie die Satteltasche aufzog und hineingriff. Ein wenig musste sie tasten, bis sie das kalte, beruhigende Metall aufspürte. Es war nicht leicht gewesen den Revolver trocken zu halten. Und er würde viel zu schnell unnütz werden, wenn sie sich jetzt nicht beeilte. Es war ihr angenehm in die Hocke zu gehen. Es war ihr angenehm den Wolfshund zu sich zu rufen. Sie empfand wahre Zuneigung für das Tier, als sie ihn Sitz machen ließ um ihm ein paar liebevolle Worte zuzuraunen. Noch einmal streichen ihre Fingerkuppen durch das durchweichte Fell, ...und sie spürte keine Reue, als der Schuss dumpf über die Lichtung hallte. Der Hundeleib tat kaum mehr als einen Ruck, dann war es vorbei. Geliebte, treue Seele.
Hinter wieherte der Hengst schrill auf. Seine Hufe zerwühlten den Boden, als er stieg und versuchte sich loszureißen. Die Ohren legte er an als das Mädchen nach seinem Zaumzeug griff. Beruhigende Worte, Nähe, ...all dies ließ ihn Vertrauen fassen. Sie sah es in seinen Augen, als sie nach hinten griff um mit einer Fingerübung die Schnallen der Satteltasche zulösen. Ein Schritt kostete es sie um die Satteltasche mit dem Fuß beiseite zu schieben. Vertrauen. Guter, starker Donas. Sie verriet es nicht, denn er hatte keine Gelegenheit Schmerz zu empfinden, als die Kugel ein gutes Stück seiner Schädelplatte sprengte. Krachend brach der Ast vom Baum als dem Hengst die Beine einknickten und es den massigen Leib zu Boden zog. Kurz noch zuckte der Kadaver, als sei er auch jetzt noch gezwungen einfach immer weiter zu gehen, ...dann wurde es still auf der Lichtung.
Es hatte begonnen. Sie hatte ihm versprochen, dass er sie nicht finden würde. Sie hatte ihm versprochen, dass sie sich nie wieder sehen würden. Wenigstens eines dieser beiden Versprechen gedachte sie zu halten. Das Mädchen ließ den Revolver fallen und schloss die Augen. Es hatte begonnen. Eleonore, Lynn, wie auch immer man sie zu rufen pflegte, würde diese Lichtung nicht wieder verlassen.
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