Lehren fürs Leben

Kaum merklich schaukelte das Schiff auf den Wellen. Eine sanfte Brise wehte über die See und lies die gesetzen Segel an den beiden Masten im Rhythmus des Windes zittern. Es schien, als führten sie einen Tanz auf, eine Liebesbekundung an das weite Meer - heute, an diesem warmen Sommerabend. Thrym blieb stehen und sah ihnen eine Weile lang zu, fasziniert und gedankenverloren, als übten sie eine Art Magie auf den Blonden aus. Als er den Blick schließlich wieder löste, ertappte er sich dabei, dass er lächelte. Wie friedlich alles hier doch war... Als könnte nichts die Ruhe stören.
Die Planken knarzten unter seinen Füßen, als er vom Steven gen Achtern schlenderte. War dieses Schiff überhaupt für Norn ausgelegt? Fand er sich womöglich schon in einigen Sekunden in den Tiefen des Meeres wieder? Durch den Rumpf gebrochen, weil er zu schwer war? Dabei konnte er doch nicht einmal schwimmen... Er seufzte. Irgendjemand würde ihn schon wieder aus dem Wasser fischen. Er war Norn, er fiel auf - überragte er den größten Teil der Mannschaft um zwei Köpfe. Dabei war Thrym selbst noch nicht einmal wirklich alt.
Zwei Wochen war es her, seit er auf der Winterkrieg angeheuert und seine Heimat verlassen hatte. Und auch wenn er es nicht zugeben mochte, er vermisste die Gipfel und seine Sippe. Seinen Vater, seine Mutter. Sogar seine Schwester - die blöde Nuss. Nun aber war er auf hoher See und hatte sogar schon seinen ersten Kampf geschlagen. Vor einem Tag war es gewesen und er erinnerte sich noch daran, als sei es erst gestern gewesen. Die Mannschaft, die größtenteils aus Söldnern bestand, hatte ein Piratennest an der Küste ausgeräumt. Dem Sieg über die feindliche Mannschaft war ein langer uns zäher Kampf vorausgegangen. Sein Hammer hatte Schneißen in die gegnerischen Reihen geschlagen und unzählige Schädel gespalten. Dieser erste Sieg konnte das Fundament einer großen Legende werden. Und die zu schmieden, hatte der Blonde allemal vor. Thrym lächelte.


Das linke Auge des Norn huschte über das Deck. Dort neben dem Steuerrad stand er, wie immer diesen furchtbaren und viel zu großen Hut auf: Kapitän Khlizz. Der Mann - oder genauer der Asura - dem Thrym folgte und der der Herr über die Winterkrieg war. Wieder schweifte Thrym in seine Gedanken ab. Was war das nur gewesen, als er angeheuert hatte... Den Golem eines befreundeten Erfinders musste Thrym im Armdrücken schlagen. Eine schöne Herausforderung war das gewesen. Dieses Metallding war so hartnäckig wie die Bezeichnung der Maschine. Einer diese furchtbaren Abkürzungen. Abgesehen davon, dass Thrym nicht schreiben konnte, hätte er den Namen des Dings ohne mehrere Zungenbrüche nicht einmal aussprechen können. Aber der Wolf hatte gewonnen und den Arm des Golems in mehrere große unförmige Teile zerrissen.


"Ich", sprach der Kleine zu ihm und nahm seinen Hut mit einer schwunghaften Geste ab, "bin Khlizz. Käpt'n der Winterkrieg." Zwei große, runde Augen starrten zum jungen Norn empor, nun, da der fast schon lächerlich große Hut vom Kopf des Asura verschwunden war. Grün waren sie, wie das frische Gras in seiner Heimat. Und in ihnen brannten Tatendrang und Abenteuerlust. In Thryms Bauch machte sich ein wohlig warmes Gefühl breit. Hier war sein Platz. Diesem Kapitän konnte er folgen.
So ging der Blonde auf die Knie und reichte dem Kahlköpfigen die rechte Pranke. "Abgemacht", sprach der Wolf, "Käpt’n Khlizz, ich heuere an."


"Na, Großer?" Thrym wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen. Das linke Auge blinzelte verwirrt und erkannte erst nach einer ganzen Weile, dass es der Kapitän war, der zu ihm gesprochen hatte. Mit hinabgeneigtem Kopf sah er den Asura an. "Na?", fragte der Norn zurück. "Du stehst hier wie b'stellt un' nich' abg'holt. Thyrm war dei' Name, aye?" Der Norn schüttelte den Kopf, grinste aber. "Fast richtig. Thrym war's." Khlizz winkte ab. "Sowieso nich' wichtig. Namen sin' Schall un' Rauch." Mit einem breiten Grinsen, das den Wolf an einen Haifisch auf Rauschkraut erinnerte, schielte der kleine Asura mit dem großen Hut zum Norn hoch. "Aber nich' für euch Norn, aye? 'ch werd' euch nie versteh'n." Auch Thrym musste grinsen. "Beruht wohl auf Gegenseitigkeit, Käpt'n."


"Also, Thrym. Was stehst'e hier un' guckst Löcher in die Luft?" Der Kapitän hatte eine sehr direkte Art, was Thrym sehr an ihm schätzte. Er selbst war kein Norn der großen Worte. Eine ordentliche Prügelei hatte für ihn jedes Problem besser gelöst als eine Diskussion. Na gut... fast jedes. Sein Auge war auch dadurch nicht wiedergekommen, dass er sich mit dem Schamanen geprügelt hatte. "Ich...", begann er dann, "denke nach. Über gestern, den Kampf." Khlizz schnalzte mit der Zunge. "Hast'e das erste Ma' getötet? Keine Tiere, sondern Mensch'n?" Von Thrym kam nur ein Nicken. Eine Weile lang schwiegen sich beide an und sahen aufs Meer hinaus.


Der Norn war es schließlich, der die Stille brach. "Es war zwar ein guter Kampf, der Beginn einer großen Legende, aber ich habe dennoch Leben ausgelöscht." Der Asura starrte immer noch aufs Meer hinaus und antwortete ihm mit ruhiger Stimme und einem nachdenklichem Unterton. "Hör' mal her. Das Leben is' wie Ebbe un' Flut. Es kommt, es geht... Es schwemmt Neu's an, es trägt Alt's fort. Wir können da nix gegen machen. Das is' eben so. Un' wenn uns're Zeit gekommen is', dann stürzen auch wir uns in die Flut'n un' werden davongetrag'n." Die Lippen zusammengepresst lauschte Thrym den Worten seines Kapitäns. "Merk' dir eins, Thrym. Auch du wirst den Flut'n nich' entkommen. Es is' nur wichtig, dass du dich nich' zu früh 'reinstürzt."


Den restlichen Abend lang sprach keiner mehr ein Wort. Sie standen nebeneinander an der Reeling und sahen der Sonne dabei zu, wie sie hinter dem Horizont verschwand und den Himmel in ein feuriges Rot tauchte.