Ohn' Gesicht.

Ungewohnte Stille hatte sie umgeben, nachdem die letzten Wochen das stete Rauschen des Stadtgemurmels jeden Atemzug begleitet hatte. Hier draussen jedoch, fern der Zivilisation einer Hauptstadt in den weiten eines nächtlichen Waldes, war die Stille für manchen Geist erdrückend. Die Zarte jedoch genoss die Abwesenheit des hintergründigen Rauschens zahlreicher Stimmen, Schritte und rarschelnder Gewandungen, auch wenn sie die eigenen Regungen so lautlos erschienen ließen. Hier und jetzt, in einer kleinen Kammer des Kurhauses, klangen selbst die stillen Atemzüge vor dem hohen Spiegel wie ein Schrei in ihren Ohren.
~"habt ihr die richtigen Antworten gefunden, Herrin?"~ klang die Frage des vertrauten Galgenast's wieder auf, die vor nicht mal einer Stunde noch im Schankraum hörbar war. ~"wer weiss schon was richtig oder falsch ist? Aber ich bin zufrieden, denn die Antworten bringen keine Zweifel mit sich. Das ist alles was zählt, findest du nicht?"~ das war ihre Antwort gewesen, die dem Sylvari ein zufriedenes Lächeln entlockt hatten.


Und wie war es jetzt? Empfand sie doch Zweifel? Irgendwo tief in ihr, da spürte sie die Unruhe von Aufregung, die lang nicht mehr gekostet wurde. Tatsächlich glaubte sie derlei Empfinden für sich als tot, doch nun war es da. Dieses kleine, zarte ziehen in der Ferne ihres Innersten, dass ein Quäntchen Leben versprach. Sie würde Fehler machen, die den Menschen gebührten. Sie würde auch irgendwann ehrlich zweifeln, vielleicht ein erstes mal ernsthaft verletzt werden, nachdem die erste Ohrfeige ihres Lebens vor einigen Monaten, sie schon in den Grundfesten erschüttert hatte. Doch hier und jetzt, war sie seit langem ihrer Zweifel erhaben und genoss die freudige Erregung die ihre Sinne beflügelte, während sich das Gesicht ihres Spiegelbildes langsam änderte.
Das kühle Quellblau geschrägter Mandelaugen stumpfte ab und verdunkelte sich zu dem dunklen Braun des jungen Ebenholzes und auch die fein geschnittenen, scharf geprägten Züge rundeten etwas ab in ihrer Form. Zwar wirkte das Gesicht noch immer für krytanische Verhältnisse so zart und zerbrechlich, war es unter ihresgleichen doch fast schon schlicht und von nichtssagender Beschaffenheit.
Ein Gesicht, dass soviel mehr erlebt hatte und gesehen, als ihr je hätte vergönnt sein sollen.
Ein Gesicht, dass so einfach in seiner Struktur, die Flügel der Freiheit mit sich brachte.


Tatsächlich empfand sie sogar einen augenblick Neid für das geschaffene selbst, weil es soviel mutiger war als seine tragende Hülle. Es hatte in der kurzen Zeit soviel mehr geliebt und gelacht, als die Schlange ihr ganzes Leben lang. Eine bittere Erkenntnis, wüsste sie nicht um den langsamen Wandel der eigenen Person. Sie wurde geliebt, dass wusste sie. So aufrichtig und ehrlich, obwohl sie es nie verstand und sich als unwürdig empfand. Wahrscheinlich war sie es auch lange Zeit, weil sie sich allem entzog im Irrglauben, diese Loyalität nicht verdient zu haben.


Doch sie irtte.


Sie würde endlich aufstehen, denn nicht weniger hatten die verdient, die an sie glaubten. Und mochte das wahre Gesicht auch so selten in Erscheinung treten und stets das flüchtige Bildnis am Rande eines Sichtfeldes sein- es gehörte denen, die sie liebten und achteten für das was sie war. Mit allen verborgenen Makeln und dem flüsternden Gift, hinter einer lächelnden Maske zarter Sanftheit.


Auch jetzt lächelte sie, als die durchscheinende Maske des zweiten ichs zerfiel und sich auflöste, während erwachendes Blau zum Kleide auf dem Tisch fiel. In schwarz war sie angekommen, doch nun trug die Robe ihr tiefes Rot, gleich dem trocknenden Blute, durchzogen von goldenen Stickereien.
Auf dem Kleide, dort thronte der Fächer, spottete der kleinen Geister die nie die Verbindung sahen.
Und noch immer war jeder Zweifel fern, denn die Antwort die sie fand, war so einfach und richtig.
Tausend Geschichten würde sie beginnen und erleben.
Sie würde in ihnen weinen und lachen, tanzen und im Stillstand harren.
Empfindungen kosten und verfluchen.
Inspirieren und zerstören.


Und all das, ohne das wahre Gesicht zu zeigen.~