Vorsichtshalber Spoiler. Ein bisschen Gewalt
Spoiler anzeigen
„Mein Vater kennt auch Schauspielerinnen.“ Adrian Iorga war ein den Umständen entsprechend frecher Neunjähriger, der Vergleiche mit Größeren, Stärkeren oder Älteren aus Herzensüberzeugung oder Mangel an kritischer Selbstbetrachtung weder fürchtete noch mied. Und wenn er gar nichts vorzubringen hatte, berief er sich auf die Errungenschaften der Familie. „Die spielen aber nicht nur. Die machen alles was er sagt und bedienen seine Freunde zu Hause.“
Die Burschen aus der Stadt lachten.
„Du Knirps hast doch gar keine Ahnung wovon du sprichst.“
Sie waren zu dritt, jeder mindestens einen Kopf größer als Adrian, der ein höhnisches Bubenlachen ausstieß und das Kinn gegen einen braunhaarigen Jungen mit grünen Augen schnellen ließ.
„Hab ich nicht? Dein Vater war auch schon da.“
Er hatte seine kindische Angeberei schon wieder ganz vergessen, als sein Vater ihn sieben Tage später in sein Löwensteiner Kontor mitnahm, wo er ihn mit der Anweisung, sich still zu verhalten und nicht zu stören bis zum Nachmittag auf einem unbequemen Stuhl neben dem Kettenraucher Revan Libanez sitzen ließ. Es war zugig in der Wartehalle, der große dunkle Mann paffte schweigend seine Zigarren und warf Adrian ab und an nichtssagende Blicke hin, die ihn trotzdem gar nicht erst auf die Idee kommen ließen, Revan anzusprechen. Als Nicolae Adrian dann rufen ließ, führte Libanez ihn in ein Beratungszimmer mit einem großen Pult und vielen Sitzgelegenheiten, von denen einige sporadisch herangeschafft worden waren.
Der Junge erinnerte sich daran, letztes Jahr einen heißen Nachmittag spielend mit seiner kleinen Schwester im angenehmen Halbdunkel dieses Zimmers zugebracht zu haben. An diesem Tag war das Zimmer fast leergeräumt gewesen. Heute stand die Luft und überall drängten sich die Männer, die für seinen Vater arbeiteten, auf den hergebrachten Stühlen und Bänken, ein paar Jüngere saßen auf großen Seekisten.
Eine Sekunde lang fühlte sich Adrian stolz, als er beim Eintreten ihre ehrfürchtigen Blicke sah. Dann fiel ihm der Mann auf, der in der Nähe seines Vaters stand, und auch der Ausdruck, den er auf dem Gesicht hatte. Das war Claudio Felhardo, der Vater des grünäugigen Knaben, mit dem und dessen Freunden er sich noch letzte Woche gemessen hatte. Sofort sagte ihm ein Dröhnen in seiner Magengrube, dass etwas auf ihn zurückfiel, etwas, das er bislang nicht bedacht hatte. Er hatte irgendetwas übersehen und jetzt musste er feststellen, dass es einen riesenhaften Schatten auf den gesamten Raum warf, aber er konnte immer noch nicht ausmachen, was genau es war.
Eine nachlässige Handbewegung seines Vaters rief Adrian her.
„Sohn, komm hier rüber.“
Er setzte seine Schritte sorgfältig. Unter den vielen Augenpaaren, die ihm folgten, wirkte jeder davon ungleich gewichtiger, so als dünnten die Blicke den Boden aus und zwängen ihn, langsamer zu gehen.
„Adrian.“ Das Gewicht eines festen Armes legte sich um seine Schultern und drückte von hinten gegen seinen Hals. Augenblicklich spürte er den Drang, diese Last von sich zu wischen. Er regte sich nicht. Ein Raum voller Augen stand auf ihn gerichtet. Sein Vater war zu ihm vor das Pult getreten und ragte, eine Statue selbsterschaffener Gerechtigkeit, zwischen ihm und Claudio Felhardo auf. „Stell dir vor. Gestern Mittag tritt dieser Mann zu mir und erzählt mir, du hättest seinem Sohn erzählt, ich würde Handelsgeschäfte mit Huren treiben.“ Manche Männer begannen Gute-Nacht-Geschichten in einem ähnlichen Tonfall wie Nicolae Iorga seine Zusammenfassung von Ereignissen ansetzte. Aber Adrian wusste wie jeder andere im Raum, dass Nicolae seinem Sohn noch niemals eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatte. Felhardo schwieg. Seine Augen waren zerrissen zwischen einem Beharren auf Recht, der aufgewühlten Sorge, im Kampf darum einen zu ungestümen Weg gegangen zu sein und Ärger über seine verletzte Privatsphäre.
„Das stimmt nicht“, hörte Adrian sich sagen, ohne dass er sich überhaupt Zeit nahm, zu verstehen, ob der ihm gemachte Vorwurf berechtigt war oder nicht.
Die Hand auf seiner Schulter quetschte ihn, dann lockerte sie sich mit einem dreifachen leichten Klopfen.
„Das stimmt nicht“, wiederholte Nicolae die Worte seines Sohns in einem tiefen, für alle Leute hörbaren Stimmton. „Dann heißt es also, du hast nicht mit dem Sohn dieses Mannes – einem Jungen Namens Fredo – über die Angelegenheiten deines oder seines Vaters gesprochen?“
Adrian wusste nicht wie ihm geschah. Der Schatten über dem Raum aber schien zu kippen und sich mit all seinem Gewicht über ihn zu werfen. Während er noch um sich blickte und das Zimmer ihm enger zu werden schien, die vielen dunklen und ernsten Gesichter ihn mit ihren unausgesprochenen Meinungen innerlich bestürmten und er sich schlichtweg keines klaren Gedankens mehr fähig fühlte, festigte sich der Griff seines Vaters wieder mit verheerender Gewalt, zog an ihm, sodass er mit einem Ruck Claudio Felhardo gegenüberstand und gezwungen war, in dessen erregtes, derbes Gesicht zu sehen. Adrian bekam es mit der Angst zu tun, er wusste nicht, ob es wegen der Frage und der unklaren ihm blühenden Strafe war oder wegen der Leute um ihn herum und dem Gefühl, das sie ihm gaben.
„Ich hab sowas nicht gesagt!“, rief Adrian, sofern man vom Rufen noch reden konnte, und er bemühte sich, trotz des Aufwärtstriebs, den er in der Klemme seines Vaters hatte, um einen aufrechten Stand.
„Du hörst es, Felhardo“, ließ Nicolae ganz gelassen anklingen. „Er sagt, er war es nicht.“
„Woher soll mein Bursche so etwas haben? Er muss es von irgendwoher haben, Nicolae. Und wenn mein Sohn mir sagt-“
Felhardo wollte etwas sagen, aber ehe der Laut, der aus seinem Mund kam, ein vollständiges Wort formen konnte, fuhr Nicolae ihm deutlich in die Parole.
„Und wenn mein Sohn sagt, dass er es nicht war“, begann er stark und schwächte dann zu einer umsichtigen Färbung ab, die nichtsdestoweniger wie ein Frosthauch jedem in den Bauch fuhr. „Und du weiterhin darauf beharrst, dass er es war. So nennst du ihn einen Lügner. Woher soll dein Bursche es haben. Fragst du mich das? Oder stellst du diese Frage an Adrian?“
Adrian kniff den Kiefer zusammen, als ein neuer Schmerz dank der Hand seines Vaters durch seine Schulter fuhr. Er wusste, er musste antworten, ohne dass Nicolae vor seinen Männern eine weitere Aufforderung an ihn richtete. Und dass er keine Zeit hatte, zu überlegen.
„Vielleicht“, begann er voreilig, mit schnellen Augen, die einen Fixpunkt suchten und in diesem Höllenraum keinen fanden, „hat er selbst was gesagt und braucht einen Schuldigen.“
„Und da sucht er sich meinen Sohn?“
„Weil ich Fredo kenne!“
Nicolae zog seine Hand von Adrian ab, aber der klemmende Schmerz blieb noch eine Weile dort. Der große Mann schnalzte mit der Zunge.
„Ich frage mich auch, wie du auf die Idee kommst, mein Junge wisse von irgendwelchen Geschäften. Du unterstellst ihm, so über die ehrbare Arbeit seines Vaters zu sprechen. Und danach lässt du es dir einfallen, ihn als Lügner hinzustellen. Mein Blut. Adrian, was sagst du dazu?“
Adrian sagte nichts. Er stand klein und zusammengekniffen auf dem Fleck und spannte seinen Kiefer. Seinem Vater fiel der Widerstand, die beklommene Verhärtung, die unter dem braven blonden Schopf vor sich ging, auf. Er nahm Adrian wieder in seinen Griff und führte ihn einen Schritt weiter raumeinwärts, wo immer noch alle Augen im Raum wie Scheinwerfer auf ihn gerichtet standen.
„Adrian. Weißt du, was wir mit Lügnern machen?“, fragte Nicolae. In seiner Ruhe lag eine Heftigkeit, deren Möglichkeit man sich nicht erklären konnte, bis einem aufging, dass es nichts war, das seine Stimme innehatte, das diesen Umstand wahrmachte, sondern etwas, das fehlte; ein fehlendes Attribut in seinem Habitus, seinem Sprech, seinem gesamten Dasein. Er war skrupellos. Er war nicht skrupellos, wie man es manch einem vorwarf, dessen Handeln hie und da den ein oder anderen Aspekt der Moral verfehlte. Der Mann hatte weder Vorbehalt noch Hemmung, und Schuldgefühl kannte er nur, wenn er es anderen wie Gift in den Rachen zwang, um sie zu zwingen, zu bereuen, ihn enttäuscht zu haben. Jetzt, wo sich fast die Einbildung, einen liebevollen Klang an seinem Vater zu hören in die Kakofonie grausamer Gedanken mischte, röchelte Adrian nur leise, starrte und brachte keine Antwort hervor.
„Für Lügner und Verräter haben wir nur eines.“ Jetzt war ihm klar, dass da keine Liebe und nichts dem Ähnliches war. Es war ihm sogar umso gewisser, und das schürte seine plötzliche Panik noch, dass das Gegenteil der Fall war. Ihm zog sich alles zusammen. Als er sah, wie Nicolae Revan Libanez zunickte und der mit ungerührter Miene eine Pistole zog, um sie dann mit genauso ungerührter Miene seinem Vater zu übergeben, wurde Adrians krampfhafte Haltung so extrem, dass er meinte, seine Muskeln dünner und fransiger werden zu spüren. Er wollte schreien und seine Unschuld beteuern. Gleichzeitig wusste er, dass seine Schuld ihm auf den Wangen glühte wie die rote Farbe, die sich Frauen manchmal auftrugen. Im Endeffekt sagte er gar nichts, tat auch nichts, bis er zum nächsten Mal die Stimme seines Vaters dicht und rau an seinem Ohr fühlte.
„Erschieß ihn.“
Der Satz legte sich feucht in seine Ohrmuschel. Erst dann schlug er dröhnend, als stünde er im Innern einer Glocke, in seinem Verstand auf. Jemand machte sich grob an seiner Hand zu schaffen und presste sie um den Griff der Pistole zusammen. Adrian hatte geglaubt, sich der vielen Augen nicht mehr bewusster werden zu können. Er hatte sich geirrt.
„Er hat gelogen, Adrian. Führ ihn seiner Strafe zu. Töte ihn.“ Allein die Weise, auf die sein Vater mit ihm sprach, war ein stilles Gewaltverbrechen. Seine Finger waren zu kurz, um den Griff ganz zu umfassen und gleichzeitig den Abzug zu erreichen. Er hielt die Pistole schief wie einen toten Gegenstand, für den es keinen Nutzen gab.
„Nicolae! Das kannst du doch nicht machen! Ich sage die Wahrheit! Ich habe mit keinem gesprochen. Mein Sohn kam zu mir und-“
„Um deinen Sohn kümmern wir uns noch“, versprach Nicolae mit einer nachlässigen Handbewegung.
Felhardo begann zu flehen und fiel auf die Knie. Aber wie alles, was er sagte, plötzlich verwaschen war von Angst und Schrecken, so drang auch jedes weitere Betteln zunehmend undeutlicher an Nicolae heran, bis er keinen Satz mehr zu hören schien. Als der Mann nach seinen Händen greifen wollte, stieß er an Adrians Seite und richtete für ihn die Waffe auf Felhardo, indem er ihn zwang, beide Hände hochzunehmen und zu zielen.
„Du schießt jetzt“, sprach er leise. Adrian wusste nicht einmal, ob ein anderer im Raum es hörte. Aber er wusste, dass jeder ihn ansah, und jeder darauf wartete, dass er sich als Mann oder als Feigling erwies, den Verräter bestrafte oder sich selbst als Lügner enttarnte, indem er nicht fertig brachte, was alle von ihm forderten. Wenn er die Männer aber glauben ließ, dass er selbst der Lügner war...
Die Gnadenrufe von Claudio Felhardo und Nicolaes rohes Anherrschen drehten sich im Raum. Ansonsten sagte keiner ein Wort.
„Du kannst mich doch nicht einfach erschießen lassen! Bitte! Mein Sohn! Er hat nichts gemacht!“
„Jetzt bring ihn um!“
„Bitte, Nicolae!“
„Sohn, wenn ich dir diese Waffe erst abnehmen muss, dann wirst du der -“
Es knallte laut. Der kniende Mann starrte sie an. Er sah auf den ersten Blick erschrocken, aber sonst völlig gewöhnlich aus. Hinter ihm hatte das Ausschussloch sein Gehirn über den Boden verspritzt. Er tat noch einen ganz seltsamen Laut und fiel dann nach vorn hin wie ein Sack. Und deshalb, weil der Einschuss in seiner Stirn war und nicht, wie Adrian anfangs glaubte, von Revans Seite her, wusste er, dass er selbst abgedrückt hatte und nicht, wie es ihm eine unmerklich kurze Sekunde hoffnungsvoll erschienen war, Revan, der ihn retten wollte. Adrian stieß einen ekelerfüllten, kalten Lufthauch aus. Ihm war, als verließe ihn damit irgendetwas. Schmerzlich fragte er sich, wie er überhaupt treffen hatte können. Seine Brust tat ihm weh. Hatte es vielleicht einen Rückstoß gegeben? Jemand zog ihn hoch. Es war Leonid Godart, der ihm die Schulter klopfte und ihm einen Blick zuwarf, der vieles für sich behielt. Ohne ein Wort führte er ihn raus. Die Männer starrten ihn immer noch an, nur manche tuschelten leise. Nicolae hatte seinem Sohn den Rücken zugewandt.
„Jetzt weißt du, was mit denen passiert, die sprechen“, sagte er zu Adrian, ohne ihm einen Blick zu erübrigen.
Kommentare 5