Seine letzte Worte waren schnell und hart eingeschlagen, hatten sie vollkommen unerwartet getroffen und brauchten doch noch Minuten, bis sie ihr mit ihrer ganzen Tragweite ins Bewusstsein gedrungen waren. Das "Gute Nacht, Lynn.", das danach noch folgte, hatte sie bestenfalls mechanisch erwidert und selbst als er seinen Weg fortsetzte, dauerte es noch Minuten, bis sie dem Boden unter ihren Füßen wieder genug traute um flüchten zu können. Die ausgelassene Heiterkeit und all der Alkohol, die in den Stunden nach all den Albernheiten auf dem Ball gefolgt waren, wurden von aufkeimendem Adrenalin und einer unbestimmten Sehnsucht verdrängt, die sie zwar spürte, aber unmöglich benennen konnte. Das Straßenpflaster über dass sie eilig schritt schien immernoch zu schwanken, doch jetzt nichtmehr, weil der Rausch vom Whiskey ihre Sinne betrog. Alisar schluckte hart und wusste schon auf dem Weg zu dem Stall in Shaemor, dass sie jetzt unmöglich nach Hause konnte.
So ritt sie nun auf dem großen Schwarzen durch das nächtliche Königinnental und fühlte sich angeschlagen wie waidwundes Wild. Im Inneren schalt sie sich für Dummheit, für Leichtfertigkeit. Ein Geheimnis für ein Geheimnis. Sie schalt sich, weil sie darauf eingegangen war. Schalt sich, weil sie dem Reiz nicht hatte widerstehen können und sich wie ein kleines Kätzchen hatte verführen lassen nach dem Wollknäuel zu jagen, obwohl sie doch wissen musste, wie schnell sich so ein Faden wie eine Schlinge um die eigene Kehle legen konnte. Sie schalt sich, weil es soviel leichter war sich mit diesen vermeintlichen Kleinigkeiten aufzuhalten, als dem ins Auge zu blicken, was der Unruhe, die sie ergriffen hatte, wirklich als Nährboden diente und solange sie nur in Bewegung blieb würde sie diesem Abgrund, einer Trauer, die zu empfinden sie gar nicht verpflichtet war, weiter davon laufen können. Und doch, sie brauchte ein Ziel. Einen Ort des Friedens und begriff erst auf halbem Weg, dass sie den Entschluss bereits gefasst hatte. Sie musste sie sehen. Und sobald sie das kupferblonde Mädchen ersteinmal visualisiert hatte wuchsen ihre Sehnsucht und der Knoten in ihrem Bauch nur noch weiter.
Alisar trieb dem Hengst die Fersen in die Flanken und führte ihn, wie sie es immer tat, in einem weiten Bogen, bis sie die eigenen Spuren wiederfand und ihnen ein Stück weit folgen konnte um zu überprüfen ob sie Anhaltspunkte auf etwaige Verfolger fand. Erst als sie sich sicher war allein zu sein wagte sie es das Ziel erneut anzusteuern und mit jedem überwundenem Meter schien ihr das Atmen ein wenig schwerer zu fallen. Sie fühlte sich wie eine Ertrinkende, als sie schließlich durch das Hoftor einritt und bereits vom Rücken des Pferdes glitt, bevor es vor dem Wohnhaus wirklich zum Stehen gekommen war. Die Hunde hatten angeschlagen. Sie spürte undeutlich wachsame Augen und Gewehrläufe die auf sie gerichtet waren als mahnendes Kribbeln im Nacken und überging sie. Lieber stürzte sie auf die einfache Holztür zu, hinter der sich der eine Rettungsanker befand, dessen sie in diesem Augenblick mit jeder Faser ihres Wesens bedurfte.
Sie schaffte es gerade noch zu klopfen, als ein alarmiert wirkender Karum die Tür öffnete. Er trat gleich beiseite. Durch ein Fenster musste er sie bereits erkannt haben und wortlos nahm er hin, dass sein leises, grüßendes: "Lis." unerwidert blieb. Seine Wachsamkeit und seine Überraschung wichen schnell, als er mit nur einem einzigen Blick die Betroffenheit von dem Gesicht des Mädchens ablas, so dass er die Tür nur leise hinter ihr schloss, während sie bereits mit gehetzten Schritten die Stufen nach oben nahm. Erst als Alisar die nächste und letzte Tür hinter sich gelassen hatte, gestattete sie sich eine kurze Pause. Ihre Augen kamen auf dem friedlich schlafenden Bündel Mensch zur Ruhe, das dort in einem einfach gezimmerten Bett lag und dessen herrliche Locken sich wie ein wirres Meer über das weiße Kopfkissen ergossen. Schnell und fahrig waren die Handgriffe mit denen Alisar sich nach und nach jeglicher Waffen an ihrem Leib entledigte und sie schenkte dem kleinen Stapel tödlichen Metalls auf dem Nachtschrank kaum eine Beachtung, als sie zu dem Mädchen in das Bett kletterte um sie behutsam und sicher in ihre Arme zu ziehen und sich an ihr festzuhalten.
"Lis." hörte sie zum zweiten Mal an diesem Abend, und es war nicht das Wort, es war der Tonfall und jedes Gefühl darin, dass den Knoten in ihr zum reißen brachte. Sie war machtlos gegen das Vertrauen, gegen die Wärme in dieser Stimme, hilflos gegen die Liebe und die Zutraulichkeit mit der sich der kleine Kolibri an sie schmiegte ohne wirklich aus dem Schlaf zu erwachen. Nichts, rein gar nichts hatte sie dem entgegen zu setzen und so vergrub sie das Gesicht in dem weichen Haar und vergoss stumme, bittere Tränen für jemanden, der nicht hier war und für einen Verlust, den sie gar nicht erlitten hatte.
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