Wie der Schaum der übersprudelnd davon kündet, dass die Milch am Topfboden anbackt und den Topfinhalt in Gänze ungenießbar macht, quoll der nur allmählich ersterbende Lärm der Stadt an den Fassaden der Hochstraße hinauf, über das Geländer und den Balkon in ihr Gemach.
Sie hatte das Haus ganz bewusst gewählt, hatte auf den kitschigen, rosafarbenen Wimpel auf dem Spitzdach des Turmes geachtet, hatte dafür gesorgt dass mädchenhafter Kitsch an der Fassade über den Inhalt, das was hinter den Mauern im Verborgenen lag hinwegtäuschte.
Niemand hatte hinterfragt, warum das Gebäude in welchem sie ihr Nest errichtet hatte im Erdgeschoss kein einziges Fenster aufwies. Niemand fragte, warum die gedrungenen, niedrigeren Häuser rechts und links scheinbar unbewohnt waren. Niemand hatte gefragt als sie den Antrag zum Ausbau des Kellers gestellt, und größtenteils unbemerkt umgesetzt hatte.
Ihr Haus war eine Festung, stand wie ein Bollwerk zwischen ihr und dem Rest der Welt, den zum Feind zu haben sie sich einredete. Fensterlos im Erdgeschoss, unterirdisch, im Inneren der Hochstraße weitläufig und sogar mit zwei geheimen Ausgängen an Stellen die eine sichere Flucht ermöglichten. Das Herzstück des Hauses, der eine Raum den nicht einmal Albert betreten durfte, hatte sie mit dicken Gittern und stabilen Türen sichern lassen zu denen es zu einen einzigen Schlüssel gab den sie wohl verborgen hielt.
Das Haus selbst war dem Anwesen ihrer Kindheit größtenteils gleich. Der kreisförmige Grundriss verhinderte eine exakte Nachbildung, und doch waren alle Räume oberhalb der gemauerten Küche die den Eingang und das gesamte Erdgeschoss bildete, mit dunklem Mahagoniholz vertäfelt. Kein Teppich, keine Skulptur und kein Bild schmückte die Räume, keine Blumen. Lediglich dicke, schwere Vorhänge von sattem, erhabenen grün, und ebensolche Möbel. Schnörkellos, nüchtern. Kalt. Das Haus war nicht geschaffen um sich wohl zu fühlen. Es war eine Festung, nicht mehr und auch nicht weniger.
Im Turmzimmer ihrer Festung saß sie nun, auf einem grüngepolsterten Hocker vor ihrem Spiegelschränkchen. Sie schminkte sich nicht, besaß nur ein Puder, ein Parfum und eine einzelne Creme gegen dunkle Ränder unter den Augen. Sonst war ihr Schminktisch leer – sie hatte nie Wert auf äußerlichen Tand gelegt, empfand ihre Schönheit als pur, als rein. Etwas, das durch Manipulation zerstört, untergraben worden wäre.
Während sie ihr Haar bürstete, sodass es in langen, seidigen Wellen über ihre Schultern fiel, ihren Rücken, ihre Brust umspielte, betrachtete sie sich im Spiegel.
Wie häufig, begegneten ihr zuerst Augen von dunklem türkisblau die sie wissend und doch forschend zugleich anblickten. Sie hielt einen Moment inne, betrachtete die einzelnen Facetten, die winzigen Farbabstufungen die ihre Iriden zu einem Gesamtwerk formten und dabei wie bildschöne, eiserne Schlösser alles unter Verschluss hielten was sie der Welt nicht offenbaren konnte. Nicht offenbaren wollte.
Über die kurze Nase mit der abgeflachten Spitze, wanderte ihr Blick entlang der dunklen Sprenkel die ihre Haus überzogen zuerst zu ihrer Stirn, und gleich weiter zu ihren Wangenknochen. Ihr gefiel nicht, wie diese hervorstanden seit sie abgenommen hatte, wie ihre Wangen eingesunken waren und ihr Gesicht schmal und hässlich machten. Sie hatte erst vor wenigen Tagen voller Freude festgestellt, dass ihre Wangen wieder Fülle annahmen, und mit der Fülle kehrte auch die Farbe zurück in ihr Gesicht.
Entlang ihrer schönen Wangenknochen – ihre Wangenknochen hatten ihr schon immer am allerbesten gefallen – tröpfelten die dunklen Punkte ihrer Sommersprossen ihren Hals hinab, umspielten ihre Schlüsselbeine und verschwanden unter dem dünnen Nachthemd gemeinsam mit dem Ansatz ihrer Schultern und den sanften Hügeln ihrer Brüste.
Die Kinder im Dorf nahe des Anwesens hatten sie als Kind Pestmarie gerufen. Pickelbetty. Sie hatte die dunklen Punkte, die sich sogar auf ihren Handrücken, den Unterarmen, ja bis hinab zu ihren Zehen auf der Haut zeigten immer für einen gemeinen Streich der Götter gehalten. Heute empfand sie sie als eine Art einzigartiges Markenzeichen. Wie so vieles an ihr. Sie war anders, und sie war stolz darauf. Einzigartig, unbezahlbar und viel zu gut für das ordinäre Pack mit dem sie sich bei Zeiten zu umgeben pflegte.
Sie legte die Bürste zur Seite, nahm ein schwarzes Seidenband zur Hand und fasste ihr Haar, um es einzudrehen und hochzubinden. Sie pflegte es zur Nacht lediglich zusammenzufassen und empfand Haarnetze und Nachtkappen als in höchstem Maße lächerlich und überflüssig. Ihr Haar war perfekt. Ohne Haarnetze, ohne Tinkturen Püderchen und Tand.
‘Vielleicht schneide ich es ab.‘ dachte sie, und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel als das Haar fortgesteckt war, mühte sich sich vorzustellen wie ihr eine Frisur mit kurzem Haar wohl zu Gesichte stehen würde.
Ihre Finger legte sie an ihren Bauch. Er hatte viel Substanz verloren, aber ihr entwich ein freudiges Quietschen als ihre Fingerspitzen eine Rolle unter dem Nachthemd fanden. In einem Anflug alberner Lebensfreude drückte und quetschte sie den gefunden Speck zwischen den Fingern, ließ die Rolle hoch und runter wandern, drückte sie von der Seite her zur Mitte hin zusammen und strahlte freudig, als sie das Zittern des Specks spürte als sie ihn wieder losließ und er zurück in Form schwabbelte.
Lebensfeuer glomm in ihrem Blick, als sie ihn wieder zur Spiegelkommode hob.
Sie war erhaben. Immer gewesen. Es hatte Tiefflüge gegeben, viele sogar, aber am Ende war sie immer diejenige gewesen die aus neu gewonnener Distanz betrachten und beurteilen konnte.
Sie war schlauer. Sie war es, die nun aus der Distanz beobachtete wie andere die Dummheiten begingen vor denen sie sich selbst gerettet hatte.
All die dummen, triebgesteuerten Gören die all ihre Energie darauf verwanden sich ins Unglück zu stürzen.
Auch sie liebte. Sie verzehrte sich. Aber sie hatte erkannt, dass diese Liebe Gift war, das durch ihre Adern kroch und darauf wartete dass sie ihm eine Stelle bot, eine einzige Schwäche, sodass es sie lähmen, sie kränken und am Ende töten könnte.
Doch das würde nicht passieren. Sie hatte es erkannt, und das Volk sprach doch dass eine erkannte Gefahr eine halbe Gefahr war. Stattdessen beobachtete sie. Andere nahmen ihr die Arbeit ab, und zu einer Hure passte eine Hure noch immer am besten.
Und am Ende würde sie diejenige sein die lachte.
Das hatte sie gelernt in den letzten Wochen. Es brauchte keine Intrige, keine Erpressung, kein Gold um erfolgreich zu sein. Sie konnte Spaß haben, entspannt sein, und doch den Sieg davon tragen. Sie hatte nicht siegen wollen, sich keine Mühe gegeben und nicht damit gerechnet – und am Ende hatte sie überzeugt. Mit Natürlichkeit.
Sie hob beide Hände und strich sich mit den Fingerspitzen über die Wangen.
Natürlichkeit.
Das Geräusch herannahender Schritte auf der Treppe riss sie aus ihren Gedanken. Sie wusste gleich, dass es nicht Albert war. Sie kannte die Schrittfolge, den Ton. Die Stimme.
„Widerliches Subjekt einer Frau! Ist das der Dank? Kaum losgesagt von deinen kindischen Träumereien verhökerst du dich wie eine dieser Dirnen und lachst und hast Spaß dabei?!“
Noch während die Türe mit Kraft die schon die Stimme ahnen ließ aufgestoßen wurde, während sie die Hände abwehrend hob und den brutalen Griff in ihr Haar doch nicht abwehren konnte, der sie vom Hocker und hart zu Boden riss, lange bevor die Türe von gegebenem Schwung gegen die Wand und dort abprallend wieder ins Schloss schlug, wusste sie, dass ihr eine lange Nacht bevorstand.
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