Der kleine, zehnjährige Danny schlich sich durch den düsteren Flur und war darauf bedacht, keine Geräusche zu machen. Nur langsam setzte er jeden Fuß auf den Bodendielen ab, um ein Knarzen zu vermeiden. Seine rechte Hand umgriff angespannt das Heft eines Schwertes, während die Linke sich an der Wand abstützte und so in der Dunkelheit zur Orientierung beitrug. Plötzlich stieß sein rechter Fuß gegen etwas am Boden. Danny ging in die Hocke, um zu sehen, was es war. Er kniff die Augen zusammen und erkannte es: Ein knochige Hand. Vorsichtig...
"Warte mal!", rief Einauge Stew, "Sag mal...erzählst du uns jetzt 'ne Geschichte inner Geschichte?"
"Ähm..", Danny kratzte sich am maskierten Kinn, "Ja, irgendwie schon. Aber ich sagte doch, dass ich meiner kleinen Schwester damals viele Geschichten erzählt habe, oder?"
"Aye, aber das verwirrt irgendwie...", merkte Robin an. Stew nickte, während er an seiner Augenklappe zupfte.
"Ha! Wenn Ihr das schon verwirrend findet, was meint Ihr dann dazu: Stellt Euch vor, wir wären auch nur in einer Geschichte! Dann wäre das die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte!"
Robin verzog sein Gesicht. "Is' mir zu phiso...philisophi....wie hieß das?"
Danny hob belehrend einen Finger. "Phosphoreszierend!"
"Ahja", brummte Stew, "Lass die Geschichte für deine Schwester lieber weg. Du meintest, Ihr wärt in 'nem Hühnerstall aufgewachsen?"
"Aye, ein Hühnerstall! Unsere Lehrerin war eine Henne namens Miss Pickipock, die schimpfte mich immer aus..."
"Daniel Wallace Pelgram! Hast du schon wieder ein Ei gestohlen?!"
"Nein, Ma'am, ich war das nicht..."
"Alter..."
"Ja, ist ja gut. Tauscht die Henne gegen meinen Onkel Louis aus..."
"Du kleiner Bastardl!", brüllte der kahlköpfige, wuchtige Louis und holte mit der Faust aus. Sie sauste wie ein Geschoss auf den zehnjährigen Danny zu und traf ihn gnadenlos im Gesicht. "Miese, kleine Ratte!" Nun grub sich der gestiefelte Fuß in die Magengrube des Jungen, dass dieser ächzend zu Boden ging. "Sag mir die Wahrheit, hast du die Eier gestohlen? Ich schwöre, wenn ich rauskriege, dass du das warst, dann wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein!"
Wie ein nasser Sack saß Danny auf dem Boden. Die Schultern, Arme und der Kopf hingen für den Moment schlaff nach unten. Dann hob er das Gesicht und grinste. Er sagte nichts, sondern grinste seinen Onkel einfach nur an. "Verdammter Bengel! Ich hasse es, wenn du mich so angrinst. Irgendwann reiß ich dir das Grinsen noch aus deiner verdammten Fresse!" Nun traf der Stiefel die Nase. Danny lag auf dem Rücken und blutete. "Na warte...", Onkel Louis wandte sich zum gehen um. Während er den Hühnerstall verließ, sprach er zu sich selbst. "Drecksgören. Warum musste meine Schwester nur verrecken und mir diese Blagen anhängen. Als ob ich nicht genug zu..." Bumm! Die Tür war zu und nur noch das Gackern der Hühner war zu hören.
Danny lag noch eine ganze Weile auf dem Rücken und regte sich nicht mehr. "Danny?", flüsterte eine Mädchenstimme. "Danny, kann ich rauskommen?"
Danny wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase und hob seinen Kopf an. "Ja, komm raus, Rebecca."
Hinter einem Fass in einer Ecke des Stalls lugte ein kleiner Blondschopf hervor. Zerzauste Haare, mit Stroh geschmückt, umrahmten das Gesicht einer sechsjährigen, die nun hinter dem Fass hervor kam. Der kleine Körper war ähnlich wie der des Jungen abgemagert und die Kleidung schmutzig und löchrig.
"Was ist, wenn er herausfindet, dass du Eier stibitzt hast?"
"Wie will er das herausfinden?"
"Ich weiß nicht." Das Mädchen ließ sich neben Danny nieder und sah ihn mit großen, ängstlichen Augen an. Schließlich rieb sie sich die Augen und fragte: "Wann können wir endlich hier weg?"
"Bald, sagte ich doch! Sobald ich mein Schwert fertig habe, kämpfe ich uns hier heraus, jahaa!" Der Junge grinste, was zu seiner blutigen Nase und den Veilchen um den Augen nicht so recht passen wollte.
"Du bist doof. Das ist doch nur aus Stroh."
"Ja und? Ich hatte schon mal so ein Schwert. Da warst du noch ein Baby, da hab ich schon Abenteuer erlebt, sag ich dir..."
Danny begann nun aus dem Stegreif eine Geschichte um ein Geisterhaus zu fabulieren. Dort hätte er sich, um gegen die Geister, Monster und Skelette zu kämpfen, ein Schwert aus Stroh und Stöcken zusammengebastelt. "Und dann fand ich im Keller einen magisch begabten Norn, der war aber ganz klein, wie ein Mensch, und der hat mir das Schwert verzaubert." Rebecca hing ihrem Bruder gebannt an den Lippen. "Und wie geht der Zauberspruch?"
"Eins zwei und drei,
dies Stroh haut alles zu Brei!"
Das Mädchen lachte und kugelte sich auf dem Boden. Sie freute sich über diesen schlichten Reim so sehr, dass sie ihre Situation vergaß. Der Tod der Eltern, der brutale Onkel, der Stall, in dem er die Geschwister untergebracht hatte, die Verletzungen Dannys, einfach alles. Der Junge wusste das und dachte sich deshalb ständig immer wieder neue Geschichten aus. Der Hühnerstall wurde zu einem Land voller Abenteuer. Eine Bühne, auf der er seiner kleinen Schwester versuchte, die Welt zu zeigen. Oder zumindest das, was er sich unter der Welt vorstellte. Wichtig war nur, dass Rebecca alles schlimme vergaß.
So dürftig ihre Unterkunft war, so dürftig waren auch ihre Nahrungsrationen. Wie in einem Kerker gab es für die beiden meist nur trockenes Brot und Wasser. Das meiste seiner Rationen überließ Danny seiner Schwester. Doch vor kurzem stahl er von den Hühner im Stall einige Eier. Der Junge hatte sich des nachts aus dem Stall geschlichen und das Haus des Onkels, das den beiden strengsten zu betreten verboten war, infiltriert, um dort eine Pfanne und alles nötige mitnahm, um Spiegeleier zu braten. In jener Nacht aßen die Geschwister ein wahres Festmahl.
"Und...und was hast du gemacht, als du beim bösen Zauberer warst?"
"Ich habe ihn besiegt. Was sonst? Als er am Boden war, flehte er um Gnade. Ich gab ihm einen tritt in seinen Hintern und er flog aus dem Fenster! Aus großer Kraft folgen halt große Arschtritte!" Beide lachten, Rebecca vor allem wegen des Wortes "Arschtritt". Da flog die Tür zum Hühnerstall auf.
Onkel Louis stampfte wutschnaubend herein und ging von einem Ende des Stalls zum anderen. Links, rechts, in jede Ecke, wühlte rum und griff dann nach etwas. Er richtete sich auf und wackelte drohend mit der gestohlenen Pfanne vor den beiden rum. "Du Ratte, du warst im Haus! Du warst im Haus und hast meine Pfanne geklaut. Was wolltest du damit. Ahhhh....damit wolltest du die Eier braten, die du gestohlen hast, stimmt's?" Danny grinste wieder nur siegessicher.
"Du mieser Bastard, du Sohn einer Hure! Ich sag's dir, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nie mehr grinsen."
"Und was hat er dann gemacht?", fragte Einauge Stew.
"Ach, der hat nur geschwätzt. Ich hab mein Strohschwert genommen, es verzaubert und dann den Fettsack damit verdroschen. Dann hab ich ihn in sein Haus gezerrt und ihm einen solchen Arschtritt durch das Fenster verpasst, dass die Leute ihn bis heute nicht mehr gesehen haben, weil er noch durch die Luft fliegt. Jemanden aus dem Fenster zu schmeißen nennt man übrigen "defenestrieren." Die letzten Wort galten wohl Robin.
Stew schüttelte den Kopf. "Du kannst echt keine Sekunde ernst bleiben, eh? Scheiße...ich brauch erst mal was zu trinken."
Damit standen Stew und Robin auf, um sich an der Theke etwas neues zu trinken zu bestellen.
Danny blickten ihnen nach. Allerdings dachte er über seine eigene Geschichte nach. Er dachte daran, wie Onkel Louis aus dem Hühnerstall verschwand und dann mit einem heißen Eisen und einem Messer zurückkehrte. Er dachte daran, wie dieser Sadist das Gesicht des Zehnjährigen damit bearbeitete. Am längsten jedoch hingen seine Gedanken bei Rebecca. Die kleine Rebecca, die das alles mit ansehen musste. Die lauter heulte, als die Hühner gackern konnten und die nach diesem Tage ihre Sprache verlor und nie wieder ein Wort sagte und nicht mehr lachte...
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