Es hatte eine Zeit gegeben, da war Hernan d'Antonio ein stattlicher Mann gewesen. Ein Mann von Ansehen und jugendlicher Kraft; ein Mann, der von sich reden machte und dessen Namen man mit Bewunderung in den Mund nahm. Wieviele fesche Mädchen hatten sich seinetwegen den Kopf verdreht, und wieviele von ihnen hatten eine persönliche Einladung in sein Atelier genossen. Wieviele bedeutende Minister hatten ihm die Hand geschüttelt, und wieviele von ihnen hatten ihn auf ihren teuren Feste willkommen geheißen. Es war eine Zeit gewesen, in der die Welt noch Sinn ergeben hatte, in der es noch Sitten und Regeln gab, die man schätzte und lobte - auch wenn man sie manchmal, in gediegener Diskretion, hatte brechen dürfen. Diese Zeit war vorbei.
Jetzt war er ein Mann voller Furcht. Ein Mann der den Pinsel nicht länger aus Leidenschaft führte, sondern weil er es musste. An seinem Können hatte sich zwar Nichts geändert, denn wieviele Jahre hatte er doch im Stillen damit zugebracht, weiter zu malen, obwohl die Welt seinen Namen vergessen hatte, doch... Nein, er konnte es nicht in Worte fassen. Wieviele Male immerhin hatte er doch Aufträge des bloßen Geldes wegen angenommen, hatte fette Politiker und rübennasige Hauptmänner als elegante Staatsmänner und attraktive Kriegshelden auf der Leinwand verewigt. Der Mann, der jetzt vor ihm stand, hatte ein makelloses Gesicht und bot ihm kein Geld an, aber es kostete Hernan die größte Überwindung, den Pinsel weiter zu führen.
Inquisitor Godfrey langweilte sich, und sein Arm schmerzte. Er tat sein Bestes, das nicht zu zeigen, immerhin hatte er keine Mühen gescheut, den Künstler diskret entführen zu lassen. Es wäre eine Schande gewesen, sein berühmtes Talent nun nicht zu bestem Nutzen zu bringen. Also tat der Inquisitor sein bestes, den kühnen Gesichtsausdruck nicht fahren zu lassen, das nervtötende Gewicht des Kostüms zu ertragen und das auf Hochglanz polierte Rapier in seiner Rechten nicht sinken zu lassen. Die Sachen hatten ihn ein kleines Vermögen gekostet. Hatten sie das? Er war sich nicht mehr sicher, wieviele Bestandteile dessen er defacto hatte entwenden lassen. Im Endeffekt, musste er sich eingestehen, spielte es auch keine große Rolle.
Hernan d'Antonio war eine wandelnde Enttäuschung. Ja, wahrhaftig. In Godfreys Jugend hatte sein Vater stets von den großen Werken des Malers geschwärmt und jedem davon gepredigt, sich eines Tages als mächtiger Kaufmann malen zu lassen. Dazu war es nie gekommen, und damals hatten Godfrey die drögen Litaneien seines Vaters stets gelangweilt, aber der Name d'Antonios war ihm doch in Gedächtnis geblieben als etwas, das man mit Ehrfurcht aussprach. Das Gerümpel, was hier vor ihm saß und traurig dreinblickend an der Leinwand hantierte, flößte jedoch keinen Respekt ein. Ein magerer Alter mit faltigen Wangen und schwachen Augen. Der Schatten eines größeren Mannes, verblichen und vollkommen ausgelebt. Ein Relikt ohne Marktwert. Fast empfand der Inquisitor soetwas wie Mitleid. Aber wirklich nur fast.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war Hernan d'Antonio ein strahlendes Juwel gewesen. Eine Koryphäe der Kunst und der zelebrierten Kultur; Ein Halbgott der Malerei, den Lyssa mit allen Gaben gesegnet und den die Welt mit allen Wassern gewaschen hatte. Wieviele geringere Künstler hatten ihn um seine Begabung beneidet, und wieviele von ihnen waren als klägliche Imitatoren in seinem Kielwasser ertrunken. Wieviele Kleinadlige hatten danach gelechzt, sich als Motiv eines echten d'Antonio zu wissen, und wieviele hatten sich dafür finanziell ruiniert. Es war eine Zeit gewesen, in der er Porträts mit Geschmack und Stil gefertigt hatte, in der er nie zu viel oder zu wenig gemalt hatte - auch wenn er sich stets Mühe gab, die erlesenen Wünsche seiner Kunden raffiniert und unaufdringlich zu verwirklichen. Auch diese Zeit war lange vergangen.
Jetzt war er eine Hure, die man zum Verkehr nötigte, ohne zu bezahlen. Ein Schöpfer, der keinen Einfluss mehr auf die Form seiner Kreationen hatte. Er ekelte sich vor sich selbst, doch welche Wahl blieb ihm. Er hatte Angst. Und so malte er diesen hochnäsigen Fremden, von dem er noch nie etwas gehört hatte und der sich doch präsentierte mit der Souveränität eines Herzogs. Ein junger Herr von vielleicht Dreißig Jahren, mit vollem blondem Haar, aber dunklen Brauen. Braungebrannt und attraktiv, trug er ein Monokel am rechten Auge und kleidete sich mit einer strahlend weißen, engen Uniform mit roten Schulterklappen und güldenen Manschetten. Hernan hatte schon gewusst, dass er einen eitlen Gecken vor sich hatte, als er ihn nur erblickte. Die Regeln waren tot.
Man musste doch sagen, dass es einige Ausdauer kostete, soein Selbstporträt anfertigen zu lassen. Das lange Stehen, die aufwändige Inszenierung der eigenen Person. Godfrey hatte bislang angenommen, diese Dinge bereits meisterhaft zu beherrschen, doch man hatte ihn eines Besseren belehrt. Mittlerweile wollte er beinahe die Auffassung vertreten, dass der Maler ihn hierfür bezahlen sollte statt umgekehrt, immerhin durfte der alte Tattergreis auf einem bequemen Stuhl sitzen und hatte dabei gefühlt alle Zeit der Welt. Nicht, dass Godfrey selbst wirklich daran dachte, für das entstehende Werk zu bezahlen. Er brauchte seine Gelder dringend für andere Dinge. Dennoch war dies hier wichitg - vielleicht seine letzte Gelegenheit dazu.
Der Inquisitor wunderte sich einen Moment lang darüber, dass d'Antonio so wenig sprach; Garnichts sprach, um genau zu sein. Er hatte sich eine Sitzung beim Porträtmaler zwar nie so anstrengend vorgestellt, aber durchaus damit gerechnet, dass der Künstler mehr Einwürfe zum Besten geben würde, ihn öfter anhalten täte, seine Pose zu korrigieren oder das Gesicht in ein besseres Licht zu drehen. Hernan d'Antonio tat wirklich Nichts dergleichen, setzte nichteinmal dazu an. Die Augen des Malers, welche gelegentlich zwischen Motiv und Leinwand hin und her huschten, waren alles, das darauf hindeutete, dass er überhaupt das malte, was gefordert worden war. Wahrlich, er hatte sich im Schneid dieses einst großen Mannes sehr verschätzt.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war Hernan d'Antonio wirklich Vieles gewesen, auf das man hätte stolz sein können. Ihm fielen zahllose Dinge ein, die früher so viel besser gewesen waren, so viele im Endeffekt, dass er aufhörte, darüber nachzudenken. Leider ließ dieser Beschluss das Hier und Jetzt nicht weniger surreal erscheinen. Früher hatte sein gefräßiger Ehrgeiz keine Grenzen gekannt, und er hatte selten einmal innegehalten, um darüber nachzudenken, was ihm alles zur Verfügung stand. Glücklicherweise hatte er bereits genügend Jahre in Abgeschiedenheit gelebt, um zu erkennen, dass er etwas verloren hatte. Und glücklicherweise hatte es Jennifer gegeben, seine liebenswerte Hausdame, die ihm stets lächelnd Tee und Gebäck brachte, niemals klagte und ihn dazu gebracht hatte, die einfachen Dinge schätzen zu lernen.
Jetzt stand nur sein Entführer vor ihm und zerrte ihn zurück in einen Mahlstrom aus Dingen, mit denen er eigentlich vor langer Zeit abgeschlossen hatte. Nur dass es ein bitterer Abklatsch der Arbeit war, die er einst geleistet hatte. Die Farben, der pompöse Stil, die Handlanger, die ihn geschnappt hatten - selbst einem Narren wäre im Licht der jüngsten Schlagzeilen aufgegangen, dass der Weiße Mantel ihn in seiner Gewalt hatte. So stand jedenfalls dieser Unbekannte vor ihm, geschniegelt und gestriegelt in einer lachhaft heroischen Pose, die Schultern zurückgezogen und die Brust herausgestreckt. Elegant reckte er ein verziertes Rapier mit heller Klinge in den Himmel, als sei er ein gefeierter Kriegsheld. Es sah aber nicht danach aus, als wüsste er wirklich damit zu kämpfen. Zu allem Überfluss lehnte der Mann sich mit der freien Hand auf einen ebenhölzernen Herrengehstock mit goldenem Knauf und trug um die Schultern ein geschmeidig glänzendes Tigerfell drapiert.
Es war ein Motiv, das so überladen war mit Pomp und Selbstherrlichkeit, dass Hernan beinahe würgen musste. Aber er traute sich nicht, auch nur den Kopf zu weit zu haben, so sehr fürchtete er sich. Der Pinsel führte sich wie von selbst, es lag ihm im Blut, doch dieses Werk würde nicht dieselbe vollendete Anmut besitzen wie diejenigen, für die er einst berühmt geworden war. Er bezweifelte allerdings, dass seinem Auftraggeber das auffallen würde. Die Verbrecher, die ihn verschleppt hatten, hatten die Umsicht besessen, sein halbes Atelier mit auszuräumen, und so standen ihm seine üblichen Mittel zur Verfügung, aber es war alles nicht dasselbe. Der imaginäre Hintergrund des mit Ganzfigur gefertigten Porträts war ihm anhand des Gemäldes eines anderen Malers vorgegeben worden. Früher wäre er über eine solche Beleidigung furios gewesen, aber so hatte er sich lediglich den architektonischen Stil der abgebildeten Türme beschaut und diesen nach eigener Kunstfertigkeit imitiert. Was für eine Stadt, oder eher Garnison, es war, die das darstellen sollte, konnte er nicht sagen. Was er aber sagen konnte, war zu seinem eigenen Entsetzen, dass er bald fertig sein würde. Er tauchte den feinen Pinsel in Farbe und zog einige finale Striche.
"Hmmm.", machte d'Antonio zögerlich, indem er von der Leinwand aufsah.
"Hmmm?", machte Godfrey und hob eine Augenbraue.
"Ich denke, ich bin fertig."
"Oh, Saul sei Dank, endlich." Genervt striff der Inquisitor das Fell ab. Er hätte bald geschwitzt wie ein Schwein, wenn er das verdammte Ding noch eine halbe Stunde länger auf den Schultern hätte tragen müssen. Verdammte Plackerei, die sich besser gelohnt haben sollte. Er nahm das schlanke Schwert und den Gehstock in eine Hand und reichte beides beiseite. Ein pferdegesichtiger Banditenlump trat hervor und nahm ihm die Sachen ab, aber Godfreys Augen waren bei d'Antonio. "Ihr hättet mir wirklich sagen sollen, dass das so dermaßen lange dauert. Lasst sehen."
"Gute Kunst braucht ihre Zeit. Ich habe bereits so schnell gearbeitet, wie ich konnte." D'Antonio legte den Pinsel beiseite und sah mit einer anklagenden Skepsis zu ihm hinüber, die ihm im Wesen lag, und die sich doch nicht wagte, ernsthaft aufzubegehren. "Und... das Gemälde muss noch etwas trocknen, mein Herr."
Godfrey ignorierte seinen Einwand, zupfte an der unangenehm eingeschnürenden Uniform herum und ging mit straffen Schritten nach vorn, während er die Knöpfe öffnete. Inzwischen hatte er sein Gegenüber gänzlich durchschaut - der große Künstler, von dem sein Vater immer geschwärmt hatte, war nicht mehr als ein feiger Köter, genau wie alle anderen Männer auch. Eine Ikone, deren Name früher mal in aller Munde war, aber längst so tief gefallen, dass man sich hatte anstrengen müssen, überhaupt seinen unbedeutenden Wohnsitz ausfindig zu machen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, vermochte der Inquisitor selbst nicht zu sagen, warum er mehr erwartet hatte, sogar regelrecht vorfreudig und nervös gewesen war, bevor sie einander dann gegenüber standen. Integrität steht und fällt mit der Position, das war eine Regel, die der Inquisitor vor Langem verinnerlicht hatte. Er sollte es inzwischen wirklich besser wissen, als die menschliche Natur zu romantisieren.
Aber als er um die Leinwand herumgetreten war - d'Antonio erhob sich wackelig, um ihm Platz zu machen - musste Godfrey seine Meinung noch einmal überdenken. Der alte Mann hatte ein Meisterwerk geschaffen. Er konnte nicht anders, als das Bild zu bewundern. Er selbst, majästetisch und kriegerisch angetan, wie er die Mannen des Weißen Mantels im Namen der Unsichtbaren anrief. Den Hintergrund bildete die Festung der Treuen, überraschend originalgetreu dargestellt, obwohl der Künstler nie einen Fuß auf diesen heiligen Boden hatte setzen können. Es versetzte dem Inquisitor einen herben Stich, diese Türme und Mauern zu erblicken. Eine einsame Insel der Zivilisation, tief im Dschungel, auf der er nun so viele Jahre zugebracht hatte. Jetzt war sie verloren. Doch es tangierte ihn nicht lange, denn größere Ziele lagen noch bevor, auch wenn er zur Zeit nicht ganz genau sagen konnte, was für welche. Und natürlich überwog die Freude darüber, dass man ihn derart realitätsgetreu eingefangen hatte. Seine Vorzüge, so fand er, kamen herausragend zur Geltung.
"Ihr habt Euch wirklich selbst übertroffen, Meister d'Antonio."
"Eure Worte ehren mich.", murmelte der Künstler und senkte den Blick.
"Das tun sie in der Tat. Dies hier wird einmal Euer Erbe sein. Weit mehr als die Bilder der Fatzken, die Ihr früher einmal gemacht habt."
"Ich... nun, gewiss. Wenn ich eine Frage stellen dürfte?"
Godfrey hatte die unbequeme Uniform inzwischen gänzlich aufgeknöpft, striff die steife Jacke komplett ab und fegte sie in eine staubige Ecke der alten Jagdhütte. Sein Monokel nahm er ebenfalls ab und steckte es sich in die Brusttasche seines seidenen Hemdes. "Nur zu, guter Mann.", meinte er kühl, während er den Maler fixierte. Er merkte genau, dass das seine Intonierung hier einschlug wie eine Kanonenkugel. Der alte Herr war bereits seit Stunden stark eingeschüchtert, auch wenn die grelle Panik fort war, die ihm innegewohnt hatte, als die Männer ihn mit einem Sack überm Kopf hergebracht hatten.
"Es... stellt sich mir die Frage..", brachte d'Antonio gebrochen hervor, ohne den Blick zu heben. "..ob Ihr mich nun wohl gehen lassen werdet, mein Herr?"
"Ob Ihr mich gehen lassen werdet, Euer Exzellenz."
"Selbsverständlich. Euer Exzellenz!"
Godfrey schmunzelte milde, streckte die Finger nach dem runzligen Kinn Hernan d'Antonios aus und hob es sacht an, auf dass sie einander in die Augen sahen.
"Und nein..", säuselte er. "Natürlich werde ich das nicht."